Kapitel 3

Spirituelles Leben

Sri Aurobindo begann seinen Yoga im Jahre 1904. Er hatte bereits einige spirituelle Erfahrungen, aber das war, bevor er etwas über Yoga wusste oder selbst auch nur, was Yoga überhaupt war. So kam zum Beispiel in dem Augenblick eine weite Stille auf ihn herab, als er nach seiner langen Abwesenheit zum ersten Mal wieder indischen Boden betrat, und zwar tatsächlich bei seinem ersten Schritt auf den Apollo Bunder in Bombay. Diese Stille umgab ihn und blieb noch monatelang. Ebenso hatte er die Verwirklichung des leeren Unendlichen, als er auf dem Bergrücken des Takhti-Suleman in Kashmir wanderte, die lebendige Gegenwart von Kali in einem Schrein an den Ufern des Narmada, die Vision der Gottheit, die von innen hervortrat, als er während des ersten Jahres seines Aufenthalts in Baroda in der Kutsche in Unfall-Gefahr geriet usw. Aber dies waren innere Erfahrungen, die automatisch, plötzlich und unerwartet kamen und nicht als Teil der Sadhana. Er begann mit dem Yoga aus sich selbst heraus ohne einen Guru und erhielt die Regel von einem Freund, einem Schüler von Brahmananda vom Ganga Matt; zuerst beschränkte sie sich auf die intensive Praxis von Pranayama (zeitweilig sechs oder mehr Stunden am Tag). Zwischen Yoga und politischer Betätigung gab es keinen Konflikt, kein Hin- und Herschwanken. Als er den Yoga begann, führte er beide fort, ohne sie für gegensätzlich zu halten. Er wollte jedoch einen Guru finden. Er traf im Verlaufe seiner Suche einen Naga Sannyasi, einen der Häupter jener Bewegung. Er akzeptierte ihn zwar nicht als seinen Guru, obgleich er von ihm im Glauben an die Yoga-Kraft bestätigt wurde, als er sah, wie er Barin geradezu in einem Augenblick von einem heftigen und ständig wiederkehrenden Bergfieber allein dadurch heilte, dass er mit einem Messer kreuzweise durch ein Glas Wasser schnitt und dabei leise ein Mantra wiederholte. Barin trank das Wasser und war geheilt. Sri Aurobindo traf auch Brahmananda und war sehr beeindruckt von ihm. Er hatte aber für seinen Yoga keinen Helfer oder Guru, bis er in Baroda Lele traf; dies Zusammensein dauerte aber nur eine kurze Zeit. Er meditierte nur drei Tage lang mit Lele und befolgte seine Anweisungen, das mentale Wesen zum Schweigen zu bringen und es vom ständigen Druck des Denkens zu befreien; er trat in eine absolute und vollständige Stille des Mentals und sogar des ganzen Bewusstseins ein. In dieser Stille erfuhr er plötzlich die unentwegte Verwirklichung des undefinierbaren Brahman, Tat, in der das ganze Universum als etwas Unwirkliches erschien und nur Das existierte. Er behielt diese Stille monatelang und sie blieb stets in ihm; denn als die Aktivität zurückkehrte, vollzog sie sich nur an der Oberfläche, während in seinem Innern alles still blieb. Damals gab es nicht die geringste Aktivität bei ihm, selbst nicht einmal an der Oberfläche. Es herrschte nur eine stille bewegungslose Wahrnehmung, die in ihrem Charakter spirituell und mental war. Dies wollte Lele aber nicht bewirken. Er wollte nur die Stille, damit die innere Stimme des Herzens ohne jedes Dazwischentreten des Denkens gehört werden könne. Deshalb versuchte er mit allen Mitteln, Sri Aurobindo wieder aus diesem Advaita-Zustand (Versunkensein in die absolute Existenz) herauszubringen. Damals sollte Sri Aurobindo in Bombay auf einer Versammlung eine Rede halten und er fragte Lele, wie er denn reden solle, wenn es nicht einmal den Schatten eines vorüberziehenden Gedankens in ihm gibt. Lele antwortete, er solle vor der Rede die Zuhörer begrüßen und dann warten. Die Rede werde dann aus einer anderen Quelle als dem Mental zu ihm kommen. Und tatsächlich geschah es so; in dem Augenblick, als er sich an die Versammlung wandte, kam die Rede. Es muss aber betont werden, dass Sri Aurobindo sich zu keiner Zeit in Trance befand. Etwas in ihm sah alle Geschehnisse; und er sprach und handelte nach den Erfordernissen des Augenblicks, ohne dass ein begrifflicher Gedanke oder eine persönliche Willensanstrengung nötig war. Seit jener Zeit kamen aus derselben Quelle oberhalb des Gehirn-Mentals all seine mentalen Betätigungen: das Reden, Schreiben, Denken, der Wille und die anderen verwandten Tätigkeiten. Er war in das spirituelle Mental und in das eingetreten, was er später das „Bewusstsein oberhalb des Kopfes“ nannte. Das war seine erste größere und fundamentale yogische Verwirklichung und der eigentliche Beginn und die Grundlage seines Yoga.

Einmal schrieb er in einem Brief über seine Yoga-Praxis: „Ich begann meinen Yoga im Jahre 1904 ohne einen Guru; 1908 empfing ich wichtige Hilfe von einem Mahratta Yogi und entdeckte die Grundlage meiner Sadhana. Aber seit jener Zeit bis zur Ankunft der Mutter in Indien empfing ich keine spirituelle Hilfe von irgendeiner anderen Person. Meine Sadhana vorher und nachher gründete sich nicht auf Bücher sondern auf meine persönlichen Erfahrungen, die sich mir von innen her aufdrängten. Im Gefängnis hatte ich jedoch die Gita und die Upanishaden bei mir, praktizierte den Yoga der Gita und meditierte mithilfe der Upanishaden; dies waren die einzigen Bücher, aus denen ich Führung erhielt. Der Veda, den ich erst lange danach in Pondicherry zu lesen begann, bestätigte eher die Erfahrungen, die ich bereits hatte, als dass er ein Führer für meine Sadhana war. Gelegentlich suchte ich Erleuchtung in der Gita, wenn ich eine Frage oder ein Problem hatte, und erhielt dann gewöhnlich von ihr Hilfe oder eine Antwort. Es ist eine Tatsache, dass ich vierzehn Tage lang ständig die Stimme Vivekanandas in meiner einsamen Meditation im Gefängnis zu mir sprechen hörte und seine Gegenwart fühlte. Die Stimme sprach nur über ein spezielles und begrenztes, aber sehr wichtiges Gebiet spiritueller Erfahrung, und sie verstummte, sobald sie alles gesagt hatte, was zu jenem Thema zu sagen war.“

Bevor Sri Aurobindo nach Pondicherry kam, hatte er bereits zwei der vier großen Verwirklichungen vollständig erreicht, auf denen sein Yoga und seine spirituelle Philosophie gründen. Die erste hatte er erlangt, während er mit dem Yogi aus Maharashtra, Vishnu Bhaskar Lele, im Januar 1908 in Baroda meditierte. Es war die Verwirklichung des stillen, raum- und zeitlosen Brahman, die er nach einer vollständigen und beständigen Stille des gesamten Bewusstseins gewann, begleitet zuerst von einem überwältigendem Empfinden und wahrnehmen der völligen Unwirklichkeit der Welt, einem Gefühl, das nach seiner zweiten Verwirklichung verschwand: jener des kosmischen Bewusstseins und des Göttlichen als alle Wesen und als alles Seiende, wie er sie im Gefängnis von Alipore hatte und wovon er in seiner Rede in Uttarpara sprach. Schon während seiner Meditation im Gefängnis in Alipore war er auf dem Wege zu seinen beiden anderen Verwirklichungen: jener der höchsten Wirklichkeit mit dem statischen und dynamischen Brahman als ihren beiden Aspekten und jener der höheren Ebenen des Bewusstseins, die zum Supramental führen. Ferner hatte er es von Lele als Prinzip seiner Sadhana akzeptiert, sich ganz auf das Göttliche und allein dessen Anleitung für seine Sadhana und seine äußeren Handlungen zu verlassen.

Indem er so die wesentlichen Elemente der spirituellen Erfahrung miteinander verband, die auf dem bisher in Indien befolgten Pfad der Einung mit dem Göttlichen und der spirituellen Verwirklichung gewonnen wurden, ging er während seines Aufenthaltes in Pondicherry noch darüber hinaus und suchte nach einer noch umfassenderen Erfahrung, die die beiden Enden der Existenz, den Geist und die Materie, miteinander vereint und harmonisiert. Die meisten Yoga-Pfade sind Wege hin zum Jenseits, die zum Geist hinführen und letzten Endes vom Leben wegführen. Sri Aurobindos Pfad steigt bis zum Geist empor, um dann mit allem Gewonnenen auf die Erde zurückzukehren, um das Licht, die Macht und die Seligkeit des Geistes in das Leben herniederzubringen und es zu transformieren. Die gegenwärtige Existenz des Menschen in der materiellen Welt ist nach seiner Schau oder Vision der Dinge noch ein Leben in der Unwissenheit mit der Unbewusstheit als seiner Grundlage. Aber selbst in ihrer Finsternis und Nichtbewusstheit sind die Gegenwart und die Möglichkeiten des Göttlichen involviert. Die erschaffene Welt ist kein Fehler des Schöpfers, keine Einbildung und Illusion, die von der Seele weggeworfen werden soll, um zum Himmel oder in das Nirvana zurückkehren zu können. Vielmehr ist sie der Schauplatz einer spirituellen Evolution, durch die das Göttliche Bewusstsein fortschreitend aus dieser materiellen Unbewusstheit heraus manifestiert werden soll. Das Mental ist der höchste Begriff, der bisher in der Evolution erreicht wurde, aber nicht das Höchste, dessen die Evolution fähig ist. Oberhalb des Mentals gibt es ein Supramental oder ein ewiges Wahrheits-Bewusstsein, das seiner Natur nach das Licht und die Macht des Göttlichen Wissens ist, das seines Selbsts inne geworden und nun von seinem Selbst her bestimmt ist. Das Mental ist ein unwissendes Suchen nach der Wahrheit. Dieses Göttliche Wissen ist jedoch ein Wissen, das in seinem Selbst existiert und sich harmonisch im Spiel seiner Formen und Kräfte manifestiert. Nur wenn dieses Supramental herniederkommt, kann sich jene Vollkommenheit offenbaren, von dem das Höchste in der Menschheit träumt. Das wird möglich durch ein Sich-Öffnen für das größere göttliche Bewusstsein, im Aufstieg zu dieser Macht von Licht und Seligkeit, der Entdeckung seines wahren Selbsts, im Verbleiben der steten Einung mit dem Göttlichen und dem Herabbringen der supramentalen Kraft für die Transformation von Mental, Leben und Körper. Diese Möglichkeit zu verwirklichen ist das dynamische Ziel von Sri Aurobindos Yoga.

Während seiner Zeit in Pondicherry von 1910 bis zum gegenwärtigen Augenblick [Anmerkung des Verlags: veröffentlicht November 1948] widmete er sich immer mehr seinem spirituellen Werk und seiner Sadhana. Nach vier Jahren stillem Yoga begann er 1914 mit der Herausgabe einer philosophischen Monatsschrift, dem Arya. Die meisten seiner bedeutenden Werke, die später in Buchform veröffentlicht wurden, erschienen abschnittsweise im Arya: die Isha Upanishad, die Essays über die Gita, Das Göttliche Leben, Die Synthese des Yoga. Diese Werke enthalten viel von dem inneren Wissen, das ihm in seiner Yoga-Praxis zuteil wurde. Andere Werke beschäftigen sich mit dem Geist und der Bedeutung der indischen Zivilisation und Kultur, der wahren Bedeutung des Veda, dem Fortschritt der menschlichen Gesellschaft, dem Charakter und der Entwicklung der Dichtung sowie der Möglichkeit einer Einung der Menschheit. Um diese Zeit begann er auch seine in England und Baroda geschriebenen Gedichte zu veröffentlichen, sowie die wenigen, die er während seiner politischen Zeit und in den ersten Jahren in Pondicherry schrieb. 1921 wurde nach sechseinhalb Jahren ununterbrochenen Erscheinens die Herausgabe des Arya eingestellt.

Sri Aurobindo lebte zuerst mit vier oder fünf Gefährten ganz zurückgezogen in Pondicherry. Später stießen dann doch immer mehr hinzu, um seinem spirituellen Pfad zu folgen. Es wurden so viele, dass für die Betreuung und gemeinschaftliche Führung jener, die um eines höheren Lebens willen alles hinter sich gelassen hatten, eine Gemeinschaft von Sadhaks gebildet werden musste. So kam es zur Gründung des Sri Aurobindo Ashrams, der weniger geschaffen wurde, als vielmehr um ihn als Zentrum herum gewachsen war.

In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass in Sri Aurobindos Yoga Sannyasa (Askese) keinen Platz hat. Sein Ashram in Pondicherry steht in ausdrücklichem Gegensatz zu der populären Auffassung von Sannyasa, wie sie gewöhnlich mit einem Ashram verknüpft ist. Die Mitglieder seines Ashram sind keine Sannyasins. Sie tragen nicht das ockerfarbene Gewand und praktizieren nicht völlige Askese, vielmehr sind sie Sadhaks eines Lebens, das sich auf die spirituelle Verwirklichung gründet. Das Ideal ist, hier auf Erden und unter den Bedingungen des irdischen Daseins das göttliche Leben zu verwirklichen.

Wir benutzen Cookies

Wir verwenden auf unserer Website nur für den Betrieb notwendige sowie sogenannte Session Cookies, also ausdrücklich keine Werbe- oder Trackingcookies.

Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Website zur Verfügung stehen.