Kapitel 3
Selbst-Beobachtung und Selbst-Organisation
Worte der Mutter
„Nur durch sehr sorgfältige Beobachtung unserer inneren Regungen, indem wir sie gewissermaßen vor den Richterstuhl unseres höchsten Ideals stellen und uns dessen Urteil auch ehrlich unterwerfen wollen, können wir hoffen, in uns ein Unterscheidungsvermögen heranzubilden, das nicht irrt.“ (Die Mutter, „The Science of Living“, On Education)
Man muss sich über den Ursprung seiner Regungen klar werden, denn es gibt im Wesen widerstreitende Bestrebungen – die einen treiben dich hierhin, die anderen dorthin, was offenkundig Chaos ins Dasein bringt. Beobachtest du dich, so siehst du, dass der mentale Geist dich stets einen günstigen Grund zu deiner Rechtfertigung liefert, sobald dich bei deinem Tun etwas beschämt – denn dieses Mental ist fähig, alles zu beschönigen. Unter solchen Voraussetzungen ist es schwer, sich zu erkennen. Man muss ganz und gar aufrichtig sein, um es zu können und all die kleinen Lügen des mentalen Wesens zu durchschauen.
Wenn du die verschiedenen Regungen und Reaktionen deines Tageslaufs noch einmal durchgehst, aber nur so, wie man endlos dasselbe wiederholt, dann machst du keinen Fortschritt. Damit diese Durchsicht dich weiterbringt, musst du in dir etwas finden, in dessen Licht du über dich selbst richten kannst, etwas, das für dich das Beste deiner selbst darstellt, das ein wenig hell, ein wenig gutwillig und, ja eben, in den Fortschritt verliebt ist; du stellst das vor dich hin, und du lässt das alles vor dir abrollen wie einen Film, zuerst alles, was du getan hast, was du gefühlt hast, deine Antriebe, deine Gedanken usw.; dann versuchst du sie zu koordinieren, das heißt festzustellen, warum das eine aus dem anderen erfolgt ist. Und du betrachtest den hellen Bildschirm vor dir: manches geht gut durch, ohne Schatten zu werfen, anderes dagegen wirft einen kleinen Schatten, und wieder anderes wirft einen ganz schwarzen, abscheulichen Schatten. Das musst du ganz ehrlich tun, als wäre es ein Spiel: in der und der Lage habe ich derart gehandelt, habe so empfunden und so gedacht; vor mir steht mein Ideal der Selbsterkenntnis und Selbstbeherrschung – stimmt jene Handlung mit meinem Ideal überein oder nicht? Wenn ja, dann lässt sie keinen Schatten auf dem Bildschirm, der transparent bleibt, und man braucht sich darum nicht zu kümmern. Wenn nicht, wird ein Schatten geworfen. Warum ist das geschehen? Was in dieser Handlung widersprach dem Willen, sich zu erkennen und zu meistern? Gewöhnlich wirst du feststellen, dass es einer Unbewusstheit entspricht – dann ordnest du es unter die unbewussten Dinge ein und beschließt, nächstes Mal zu versuchen, bewusst zu sein, bevor du etwas tust. In anderen Fällen dagegen siehst du, dass es ein ganz schwarzer, böser kleiner Egoismus war, der deine Tat oder deinen Gedanken entstellt hat. Nun hältst du diesen Egoismus vor dein „Licht“ und fragst dich: „Warum hat der das Recht, mich so denken und handeln zu lassen…?“ Und statt irgendeine Erklärung zu akzeptieren, suchst und findest du in einem Winkel deines Wesens etwas, das denkt, das sagt: „Aber nein! Ich nehme alles an, nur das nicht!“ Du wirst sehen, dass es eine kleine Eitelkeit, eine Regung von Eigenliebe, ein irgendwo verstecktes selbstsüchtiges Gefühl ist, hundert Dinge. Das alles betrachtest du also gut im Licht deines Ideals: „Stimmt es mit meiner Suche und der Verwirklichung meines Ideals überein, wenn ich diese Regung behalte, oder widerspricht es meinem Ideal? Ich halte diesen kleinen dunklen Winkel so lange dem Licht entgegen, bis es in ihn eindringt und ihn zum Verschwinden bringt.“ Dann ist die Posse aus. Allerdings bist du noch nicht mit der ganzen Komödie deines Tageslaufes fertig, denn es gibt ja vieles, was auf diese Weise vor dem Lichte abzuwickeln ist. Fährst du aber mit diesem Spiel fort – es ist wirklich ein Spiel, wenn du es aufrichtig tust –, so wirst du dich schon in einem halben Jahr nicht mehr wiedererkennen, das versichere ich dir, du wirst sagen: „Was, so war ich? Das ist doch nicht möglich!“
Man kann fünf, zwanzig, fünfzig oder sechzig Jahre alt sein und sich auf diese Weise umwandeln, indem man alles und jedes vor dies innere Licht stellt. Du wirst sehen, dass die Elemente, die mit deinem Ideal nicht übereinstimmen, im Allgemeinen nicht von der Art sind, dass du sie völlig abweisen musst (solche gibt es nur sehr wenige), sondern einfach Dinge, die nicht an ihrem Platz sind. Ordnest du alles – deine Gedanken, deine Gefühle, deine Impulse usw. – um das seelische Zentrum, das innere Licht herum an, dann stellst du fest, dass das ganze innere Durcheinander sich in eine leuchtende Ordnung wandelt.
Würde ein entsprechendes Verfahren von einem Volk oder gar von der ganzen Erde angewandt, so verschwände natürlich das meiste von dem, was die Menschen unglücklich macht, denn der größte Teil des Elends der Welt kommt daher, dass die Dinge nicht an ihrem Platz sind. Wäre das Leben so organisiert, dass nichts vergeudet würde und alles seinen Platz hätte, dann gäbe es die meisten Nöte nicht mehr. Ein alter Weiser hat gesagt:
„Es gibt nichts Böses, nur mangelndes Gleichgewicht. Es gibt nichts Schlechtes, nur Dinge, die nicht an ihrem Platz sind.“
Wäre in den Völkern, in der stofflichen Welt, in den Taten, den Gedanken, den Gefühlen der Einzelnen alles an seinem Platz, so verschwänden die meisten menschlichen Leiden.

Worte der Mutter
Man hat widersprüchliche Willensregungen in sich.
Ja, viele. Das ist eine der ersten Entdeckungen. Ein Teil will so; und dann, zu einem anderen Zeitpunkt, will man so; und zu einem dritten Zeitpunkt will man dann noch einmal etwas anderes! Und dann gibt es auch noch folgendes: Etwas, das will, und etwas anderes, das nein sagt. Was? Das muss man eben herausfinden, wenn man sich selbst auch nur im geringsten organisieren will! Warum sich nicht einmal auf eine Leinwand projizieren, wie im Kino, und sich dann zuschauen, wie man sich regt und bewegt? Das ist so interessant!
Das ist der erste Schritt.
Man projiziert sich auf eine Leinwand, und dann beobachtet man, und man sieht alles, was sich so bewegt und wie es sich bewegt und was passiert. Man macht eine schematische Skizze, also das wird sehr interessant. Und dann, nach einer gewissen Zeit, wenn man es schon gewöhnt ist, das zu sehen, kann man einen weiteren Schritt tun und einen Entschluss fassen. Oder dann noch einen größeren Schritt: Man stellt eine Ordnung her – man ordnet an, man greift all das auf, stellt jedes Ding an seinen Platz, organisiert so, dass man allmählich eine geradlinige Bewegung erhält, die eine innere Richtung hat. Und dann wird einem seine Orientierung bewusst und man kann sagen: „Sehr gut, so wird es sein. Mein Leben wird sich so und so entwickeln, denn es ist die Logik meines Wesens. Jetzt habe ich das alles in mir geordnet, alles steht an seinem Platz und dann ist es ganz natürlich, dass sich eine zentrale Orientierung bildet. Ich bin diese Orientierung. Und noch ein Schritt und ich weiß, was mir widerfährt, denn ich selbst bin es, die oder der entscheidet…“ Ich weiß nicht, ich erzähle dir das – mir kam das immer furchtbar interessant vor, das Interessanteste auf der Welt. Es gab nichts, rein gar nichts, das mich mehr interessiert hätte.
…Und ich bin überzeugt, dass jeder, der es so machen würde, mit jener Frische, jener Ehrlichkeit, zu aufregenden Ergebnissen gelangen würde… Das alles vor sich auf eine Leinwand bringen und schauen, was sich abspielt. Und der erste Schritt ist, alles zu wissen, was vor sich geht, und zudem darf man nicht versuchen, die Augen zu schließen, wenn einem etwas nicht so schön erscheint! Man muss sie ganz weit öffnen und alles offen vor der Leinwand ausbreiten. Also das ist eine sehr interessante Entdeckung. Und der nächste Schritt ist dann, dass man sich sagt: „Da sich das alles ja in mir abspielt, warum sollte ich dann nicht dieses so hinstellen, das so, und dann jenes so und etwas Logisches und Sinnvolles daraus machen? Warum sollte ich nicht das, was den Weg versperrt, diese widerstrebenden Willensregungen, wegrücken? Warum? Und was stellt das im Wesen dar? Warum ist es da? Wenn es dort hingestellt würde, wäre es nicht eine Hilfe statt zu schaden?“ Und so fort.
Und nach und nach, ganz allmählich sieht man klar, und dann sieht man, warum man so angelegt ist, welche Aufgabe man zu erfüllen hat – die, für die man geboren ist. Und da sich ja dann alles so gestaltet, dass diese Sache eintrifft, ist es ganz selbstverständlich, dass der Weg ganz gerade wird und man schon im voraus sagen kann: So und so wird es sein. Und wenn die Dinge von außen kommen und versuchen, das alles zu stören, vermag man zu sagen: „Nein, dies nehme ich an, weil es hilft; jenes weise ich zurück, weil es schadet.“ Und nach einigen Jahren hält man sich dann wie ein Pferd am Zügel: Man tut, was man will, wie man es will, und man geht dahin, wohin man will.
