Kapitel 3

Mutters Playground

Heute will ich euch vom Playground selbst als einem großen, von der Mutter geschaffenen Phänomen erzählen. Vielleicht erinnert ihr euch, dass wir einmal in unserem Theater ein von den Schülern aufgeführtes Stück gesehen haben. Es handelte vom Abenteuer einiger junger Leute, die ihr Zuhause verließen und in die Welt hinausgingen. Sie kamen schließlich zu einem Haus. Einer von ihnen öffnete beiläufig eine Seitentür des Gebäudes und alle gingen hinein und fanden sich in einem Märchenland wieder. Sie waren überrascht und verwundert: Sie entdeckten, dass sie die alte Welt verlassen hatten und in ein neues, fremdartiges, bezauberndes Märchenland gekommen waren.

Dasselbe Erlebnis hat man, wenn man die Tür zum Playground öffnet und eintritt. Wenigstens haben wir es in den Anfangstagen so empfunden. Sobald wir den Playground betraten, umgab uns eine neue Atmosphäre, ein neues Leben voller Freude, Glück, Vergnügen und Freiheit. Wenn wir unsere Gruppenkleidung anzogen, fühlten wir uns ganz anders als sonst. Alte Leute in unserer Gruppe mit ihren blauen Shorts, wirklich alte Leute, fühlten sich sehr jung, jugendlich, und sie trabten herum, als ob sie ihr Alter mit all seinen Beschwerden hinter sich gelassen hätten. Und die jüngeren Leute, die Jüngsten, brannten so darauf, der Gruppe beizutreten und ihre grünen Uniformen zu tragen. Viele von ihnen kamen, nachdem sie ihre grünen Shorts angezogen hatten, zu mir gerannt und sagten begeistert: „Heute habe ich meine Uniform bekommen und werde in die Gruppe gehen“. – Sie waren so glücklich, so frei und vergnügt.

Nun ein Wort zur Organisation der Gruppen im Playground. Natürlich muss man bezüglich des Altersunterschieds, Geschlechts und der Fähigkeiten etwas beachten. Das generelle von der Mutter geforderte Prinzip bei der Organisation bestand darin, keine Unterschiede bezüglich des Alters, insbesondere des Geschlechts zu machen, da alle Menschen grundsätzlich von gleicher Natur sind. Speziell bei den Sportwettkämpfen, die von Zeit zu Zeit veranstaltet wurden, waren die Gruppen alle gemischt. Die grünen und roten, die blauen und alle die anderen Farben bildeten sozusagen eine Melange. Heute ist es etwas anders, aber früher war es so, dass Auszeichnungen und Unterscheidungen hauptsächlich aufgrund der Fähigkeiten erfolgten, und das auch nur auf allgemeine und sehr oberflächlich Weise. Auch ich, eine betagte (ich sage nicht alte) Person, rannte und turnte mit jungen Leuten, auch mit Mädchen – nicht zum Spaß und Scherz, sondern sehr ernsthaft. Es sollte beispielhaft zeigen, dass es in eurem mentalen Geist, in eurem Bewusstsein kein Gefühl von Unterschied, Unter- oder Überlegenheit unter den Gesichtspunkten von Alter, Geschlecht – und sogar in gewissem Maße Leistungsfähigkeit – geben sollte.

In den allerersten Tagen, als wir nur sehr Wenige waren, ungefähr um die fünfzig, redeten wir uns immer mit unserem Namen an. Es gab kein daran angehängtes dada oder didi, nur: Nolini, Pavitra, Sahana, Lalita, – das war alles, schlicht und einfach. Wenn nun Leute von außerhalb kamen, fanden sie es ein bisschen seltsam und sagten: „Sie haben hier keinen Respekt vor dem Alter, keinen Respekt vor älteren Menschen und nehmen keine Rücksicht auf Frauen; sie sprechen sich einfach nur mit dem Namen an.“ Aber wie immer es von außen her gesehen wurde, das Bewusstsein und die Haltung dahinter waren in Wirklichkeit anders. Es gab einige Leute, die das spürten und anerkannten. Wenn jemand im Ashram mich mit meinem Namen ansprach oder eine ältere Frau mit ihrem, so war das Gefühl dahinter sichtbar voller Respekt und Rücksichtnahme, sogar Liebe. Nur die Form der Anrede war schmucklos und ohne besondere Kennzeichnung. Sogar jemand von außerhalb sah die Sache so, bewertete sie richtig, schrieb einen Artikel über den Ashram und erwähnte diesen Brauch: „Es ist sehr seltsam, dass junge Leute alte Menschen bloß mit ihrem Namen anreden, aber es hört sich gut und angebracht an, wenn es so aus ihrem Mund kommt.“

Dies waren die Leitprinzipien der Organisation der Sportgruppen. Zuerst einmal sollte es keine Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen geben. Alle sollten dieselben Übungen und dasselbe Programm durchlaufen. Das war früher, und ich denke, auch heute verbindlich für die jüngeren Gruppen: die grüne Gruppe und die rote und sogar noch etwas darüber hinaus. Aber es wurde oft gefragt: „Ist es nicht natürlich, verschiedene Programme anzubieten, da Jungen und Mädchen besonders im Hinblick auf ihr Geschlecht verschieden sind?“ In Wirklichkeit haben sich die Körper aber verschieden entwickelt, weil das Bewusstsein über Jahrtausende des Wachstums und der Evolution auf dem Unterschied bestand. Erst jetzt in dieser Epoche haben sich die Dinge etwas geändert. Einige von euch, die Älteren, können sich vielleicht erinnern, welche Schwierigkeiten die Mutter hatte, die Mädchen zu veranlassen, Shorts und Hemden für den Sport anzuziehen. Sie musste es sanft und langsam angehen lassen. Anfangs lernten die Mädchen, Hosen anzuziehen; sie marschierten und machten ihre Übungen in Hosen. Sogar heute sehen wir in der Welt außerhalb, besonders an vielen Orten in Indien, Frauen und Mädchen in Saris marschieren und Paraden abhalten. Die Frauen bei unserer Polizei verrichten sogar heutzutage ihren Dienst im Sari. Die Tradition ist sehr stark, und in dieser Hinsicht wollen wir hier Vorreiter dieser neuen Entwicklung sein, in der die physische Freiheit der Frauen der der Männer gleicht. Dies war die Lektion, die die Mutter uns gelehrt hat.

Vor langer Zeit, ungefähr vor fünfundzwanzig Jahren kam eine bekannte indische Führungsperson hierher, sah unsere Playground-Aktivitäten und machte die Bemerkung: „Ich bin durch ganz Indien gereist, habe verschiedene Bildungsinstitute besucht und Frauen Gymnastikübungen machen gesehen. Aber dies ist das erste Mal, dass ich hier im Ashram Mädchen Bockspringen und Übungen am Stufenbarren machen sehe. Das habe ich nirgendwo sonst gesehen.“ Natürlich versteht sich von selbst, das Zirkusmädchen anders sind. Aber die Leute glaubten, das Bockspringen und viele andere Körperübungen und Spiele hauptsächlich für Männer geeignet sind. Heute sieht man das allgemein als Aberglauben und Fehlurteil an. Die weiblichen Champions in Wimbledon bezeugen das Gegenteil. Das Allerwichtigste ist, dass ihr euer Bewusstsein ändern müsst. Natürlich gibt es dabei Schwierigkeiten, die Macht der Gewohnheit, die Macht von Rückschlägen in der Entwicklung. All das verlangt von euch eine Extradosis Bewusstsein oder ein neues Bewusstsein.

Was die den Frauen und der jüngeren Generation gegebene Freiheit anbetrifft, gibt es einen Unterschied zwischen dem, was hier getan wird und anderswo üblich ist. Mutter hat so oft wiederholt: Die Freiheit und Ungezwungenheit, die ihr hier genießt, ist außergewöhnlich; es gibt praktisch keinerlei Einschränkungen eurer Freiheit. Dies ist zwar gefährlich, denn der uneingeschränkte Gebrauch der Freiheit beinhaltet das Risiko, sie zu missbrauchen. Aber die Mutter ist das Risiko eingegangen, denn es ist der einzige Weg zu einer tiefgreifenden Lösung, und nicht ein Kompromiss auf halber Strecke. Nur wenn ihr frei seid, wenn ihr völlig, absolut frei seid – ihr müsst zwischen dem Guten und Schlechten wählen, und ihr wählt aus eigenem Willen das Gute, – dann ist das Gute für euch, euer Bewusstsein und eure Entwicklung von wirklicher Bedeutung. Andernfalls, wenn ihr dem Guten aufgrund von Zwang, Angst, gesellschaftlicher Sitte oder Eitelkeit folgt, – das heißt, wenn ihr, um gut zu sein, bestimmte Regeln befolgt oder das Gefühl habt, tugendhaft oder pflichtbewusst zu sein, – dann ist es nicht der richtige Weg, die richtige Haltung und das wahre Bewusstsein. Das wahre Bewusstsein bedeutet, das ihr das Richtige nicht aus Pflichtgefühl, um des Erfolges willen tut, oder weil es von euch erwartet wird, sondern weil euch eure Natur dazu drängt. Die Blume blüht ohne jedes Gefühl von Pflicht. Sie besitzt keinen Schönheitssinn, denn es ist ihre Natur zu blühen und schön zu sein.

Menschliche Wesen sollten auch so sein, spontan und natürlich in ihrem Handeln und Benehmen. Wenn ihr dann etwas Großes unternehmt, fühlt ihr nicht, dass ihr etwas Wunderbares vollbringt, eure Macht ausübt oder eure Pflicht tut, sondern weil es in eurer Natur liegt. Ihr könnt nicht anders. Ich gebe euch ein Beispiel. Ihr lernt Englisch und englische Grammatik. Jetzt sagt mir, was der Unterschied zwischen diesen beiden Behauptungen ist: „Ich muss das machen“ und „Ich sollte das tun“. „Ich muss das machen“ heißt „Ich bin verpflichtet es zu tun, gezwungenermaßen, es geht nicht anders.“ „Ich sollte es tun“ bedeutet „Es ist richtig für mich, das zu tun. Ich werde es tun; es ist sozusagen meine Natur.“ Etwas von der Art wird in der Gita gelehrt – das Ideal des kartavyam karma und nishkāma karma oder das Befolgen des eigenen Svadharmas. Kartavya wird gewöhnlich als Pflicht übersetzt, aber das ist nicht korrekt. Kartavya ist der eigene Dharma oder der spontane Ausdruck der eigenen Natur, – es ist das, was man tun sollte, nicht was man tun muss.

Mutter gab ihren Kindern diese unendliche Freiheit, weil das der einzige Weg war, eine neue Wesensart zu erschaffen. Sie zeigte auch den Unterschied zwischen dem richtigen und falschen Gebrauch der Freiheit. Den falschen Gebrauch findet man in den Freiheitsbewegungen draußen im normalen Leben, zum Beispiel in der Studentenbewegung oder der Frauenemanzipationsbewegung. Nun, wenn Frauen für den eigenen Frieden kämpfen, sehen sie sich als Frauen, die gegen Männer für den Frieden kämpfen. „Wir sind Frauen, ihr seid Männer; ihr genießt Privilegien und Rechte, uns verweigert man sie; wir wollen sie auch haben, wir fordern sie.“ Auch in der Jugendbewegung sagen die jungen Leute: „Alle Befugnisse, die die alten Leute haben, die Positionen und Einkünfte… So geht das nicht, wir wollen mit den Alten an diesen Dingen teilhaben.“ Mutter sagte: „Das ist nicht die richtige Haltung.“ Ihr müsst eure Haltung, eure Sicht der Dinge ändern. Wenn ihr auf einen Streit, einen Kampf aus seid, seht ihr euch selbst als andere Wesen mit anderen Kräften, Fähigkeiten und anderer Wesensart. Zuallererst müsst ihr euch, beide Parteien, als menschliche Wesen betrachten, nicht als zwei verschiedene Spezies.

Dieser Standpunkt ist heute ansatzweise anerkannt, aber Mutter sagt, dass das nicht genügt. Wenn ihr zufrieden damit seid, einfach nur menschliche Wesen zu sein, wird es immer wieder Unterschiede geben, und nicht nur Unterschiede, sondern schwere Differenzen. Die menschliche Natur ist mit diesen Unterschieden geschaffen, und Kultur und Zivilisation bedeuten nichts anderes als eine Aussöhnung, einen Kompromiss zwischen diesen Unterschieden zu schaffen. Wir sind einer Lösung noch nicht sehr nahe gekommen. Es muss eine tiefere Wahrheit gefunden werden, eine höhere und mächtigere Wahrheit. Wir müssen uns auf eine neue Ebene erheben. Mutter sprach immer davon, die Wahrheit zu finden, die Wahrheit eurer Seele. In der Wahrheit eurer Seele seid ihr weder Mann noch Frau, weder jung noch alt – tvam kumāra uta vā kumārī, tvam jīrna. Ihr seid dies alles nur dem Anschein nach, denn ihr seid mehr, ihr seid etwas anderes.

Ihr müsst euren Stand in eurer Seele nehmen – das ist die Lektion, die die Mutter im Playground-Unterricht zu lehren versuchte. Solange ihr im normalen Bewusstsein seid, verwurzelt in eurem Körperbewusstsein, und die Dinge von dort aus betrachtet, wird das Leben nach dem vom Körperbewusstsein geschaffenen Muster aufgebaut. Nach diesem Muster kann das Leben nur durch Unterschied und Abgrenzung, Kontrast und Widerspruch, Konflikt und Kampf voranschreiten. Solange ihr bei eurer gewohnten Haltung bleibt, wird es so sein. Das Heilmittel ist radikal: es bedeutet, eure Haltung umzukehren. Ihr dürft nicht auf euren Füßen, sondern müsst auf eurem Kopf stehen. Dann werdet ihr den Weg finden, auf dem ihr vorankommt: Nicht durch Trennung, sondern durch Einheit, nicht durch Verschiedenheit, sondern durch Identität. Solange ihr nur menschliche Wesen seid, kann es diese höchste Seelen-Einheit nicht geben. Ihr müsst die Unterschiede vergessen. Jemand fragte die Mutter bei einem der Playground-Gespräche: „Wie ist es möglich, diesen fundamentalen Unterschied zu vergessen, dass man ein Mann ist und jemand anderes eine Frau?“ Mutter antwortete: „Wie kannst du das sagen? Schau her. Glaubst du, wenn ich mit Tara spreche, betrachte ich sie als Frau und spreche demgemäß?“ Und sie hätte hinzufügen können: „Und wenn ich dir antworte, glaubst du, dass ich mit einer männlichen Person spreche?“

Ich kann hier ein kleines Ereignis erzählen, das mich betrifft. Es bezog sich auf die Frage des Alters. Als jemand Mutter informierte, dass sie meinen Geburtstag, vielleicht war es mein achtzigster Geburtstag, großartig mit einer festlichen Veranstaltung feiern wollten, brauste Mutter auf: „Nein, nein, ihr ruiniert meine Arbeit. Die ganze Zeit habe ich versucht, ihn sein Alter vergessen zu lassen, und jetzt versucht ihr, darauf zu beharren.“ Das Alter ist also eine Sache, die man vergessen sollte. Die Geburtstagsfeier ist nicht dazu da, das Voranschreiten unseres Alters zu vermerken, – wie wir Jahr für Jahr einen Fortschritt an Jahren machen, wie wir älter werden. Nein, sie soll den im inneren Wesen und Bewusstsein gemachten Fortschritt bezeichnen. Jeder Geburtstag soll ein Meilenstein des Voranschreitens eures Bewusstseins und nicht eurer Grauhaarigkeit sein. Der Kontakt mit eurer Seele wird euch nicht nur dazu inspirieren, die richtige innere Bewegung, das Erhellen eures Bewusstseins, vorzunehmen. Er lässt euch auch die richtige physische Bewegung machen, veranlasst euch sogar dazu, die passende Art von Körperübungen zu wählen und sie korrekt durchzuführen. Die Lektion, die gelernt werden muss, ist dann, zu eurer Seele in eurem Inneren zurückzukehren. Ihr werdet dort alles finden, was wertvoll für euch ist: Freiheit, Freude, Harmonie und sogar unbekannte Fähigkeiten.

Leute, die von außerhalb kommen, fragten früher sehr oft und sogar heute noch: „Was tut der Ashram für das Land, für die Welt? Sein Werk ist begrenzt auf nur wenige Leute. Ist es das wert?“ Mutter antwortete einfach: „Ich tue etwas, was sonst nirgendwo in der Welt getan wird. Ich wecke die Seele in meinen Kindern, die Seele, die alleine retten kann.“ Den Auswärtigen sagen wir: „Wenn ihr herkommt, kommt mit offenen Augen, mit Augen, die die Seele der Menschen hier sehen oder vielmehr in sie hineinsehen. Schaut nicht darauf, was sie lernen, tun oder sagen, sondern schaut in sie hinein, seht, was da tief im Inneren ist.“ Sogar heute sage ich: „Sie ist da in euch, ihr Werk steht nicht still. Das Tempo ihres Wirkens ist so groß und lebhaft, wie es sein kann, und seine Auswirkung wird immer klarer und offenkundiger werden.“

Deshalb wiederhole ich, die Seele ist weder Junge noch Mädchen, weder jung noch alt; sie hat nicht die körperlichen Charakteristika, die für den Menschen oder eher das Tier natürlich sind. Aber das bedeutet nicht, dass sie keinen Körper hat, dass sie etwas luftiges, nebulöses, dunstiges ist. Überhaupt nicht: Die Seele hat einen Körper, ihren eigenen Körper, so wirklich und deutlich erkennbar wie der physische Körper. Sie hat sogar einen materiellen Körper, obschon seine Materie von anderer Art ist. Haben nicht die westlichen Gelehrten angefangen, von unstofflicher Materie, von Antimaterie zu sprechen? Jenen Seelenkörper, den ihr sogar jetzt in eurem materiellen Körper tragt, könnt ihr so deutlich und lebhaft spüren wie euren äußeren Körper. Die Mutter erhält ihn in euch; ihr kommt durch euren Kontakt mit der Mutter mit ihm in Verbindung. Liebt die Mutter, seid eins mit ihr; dann werdet ihr eure lebendige Seele finden und sie selber sein.

Veröffentlicht im August 1978