Kapitel 3

Imagination und Meditation

Worte der Mutter

Liebe Mutter, wenn du uns sagst, dass wir über ein Thema meditieren sollen, wählen wir zum Beispiel, dass wir uns dem Licht öffnen. Wir stellen uns alle möglichen seltsamen Dinge vor, wir stellen uns eine Türöffnung vor und so weiter, doch das nimmt immer eine mentale Form an.

Das kommt auf den Einzelnen an. Jeder hat sein besonderes Verfahren. Die einen können eine bildliche Vorstellungskraft haben, die ihnen hilft, andere dagegen haben einen abstrakteren Geist und sehen nur Ideen. Wieder andere, die mehr aus der Empfindung oder aus dem Gefühl leben, haben eher psychologische Regungen, innere Gefühlsregungen oder Empfindungen – das hängt von jedem Einzelnen ab. Jene, die ein aktives und besonders gestalterisches physisches Mental haben, sehen Bilder, doch nicht alle empfinden das Gleiche. Wenn du zum Beispiel deinen Nachbarn fragst (die Mutter wendet sich an das daneben sitzende Kind)… Wenn ich ein Thema gebe, siehst du solche Bilder?

Manchmal.

Manchmal?

Meistens empfinde ich etwas.

Was ist es meistens?

Eine Empfindung.

Eine Empfindung, ja. Häufiger ist es eine Empfindung – ich will damit sagen: im Allgemeinen –, häufiger ist es eine Empfindung oder ein Gefühl als ein Bild. Das Bild kommt immer bei denen, die ein gestalterisches mentales Vermögen haben, ein physisches Mental, das aktiv ist. Das ist ein Zeichen, dass man in seinem mentalen Bewusstsein aktiv ist.

(Das Kind, das die erste Frage gestellt hatte) Aber ist das richtig so?

Alles ist angebracht, solange es zu einem Ergebnis führt! Was immer es auch sei. Warum sollte es nicht angezeigt sein? … Solche Bilder sind nicht notwendigerweise lächerlich. Sie sind nicht lächerlich, es sind mentale Bilder. Wenn sie zu irgendeinem Ergebnis führen, sind sie durchaus angemessen. Wenn sie eine Erfahrung ermöglichen, sind sie angemessen.

Wenn ich euch zum Beispiel bitte, tief in euch hineinzugehen, werden sich einige auf eine Empfindung konzentrieren, während andere vielleicht den Eindruck haben, in einen tiefen Brunnen hinabzusteigen. Klar vor sich sehen sie ein Bild von Stufen, die in einen dunklen, tiefen Brunnen hinabführen, und sie gehen weiter und weiter und tiefer und tiefer. Manchmal erreichen sie eben eine Tür. Sie setzen sich vor die Tür, mit dem Willen, dort einzutreten, und manchmal öffnet sich die Tür. Dann gehen sie hinein und sehen eine Art Halle, Raum, Höhle oder Ähnliches, und wenn sie weitergehen, kommen sie von dort vielleicht zu einer weiteren Tür und halten wieder inne. Nach einigem Bemühen öffnet sich die Tür, und sie gehen weiter. Wenn man das mit genügend Beharrlichkeit tut und diese Erfahrung fortsetzen kann, kommt ein Moment, an dem man wieder vor einer Türe steht, einer besonders stabilen und ehrwürdigen Tür. Und mit großer Konzentration öffnet sich auch diese, und auf einmal betritt man eine Halle aus Klarheit und Licht. In diesem Moment hat man Kontakt zu seiner Seele… Ich wüsste jedenfalls nicht, was schlecht daran sein sollte, Bilder zu sehen!

Nein, aber es ist doch nur eine Vorstellung, nicht wahr, Mutter?

Vorstellung? Was ist eine Vorstellung? Du kannst dir nichts vorstellen, was nicht im Universum existiert! Man kann sich unmöglich etwas vorstellen, das nicht irgendwo existiert. Möglich ist nur, dass man seine Vorstellungskraft nicht an ihren Platz stellt: Entweder verleiht man ihr Tugenden und Eigenschaften, die sie nicht hat, oder man interpretiert sie nicht richtig. Doch was immer man sich vorstellt, gibt es irgendwo. Zu wissen wo und es an den rechten Platz zu stellen, ist das Entscheidende.

Wenn du natürlich, nachdem du dir vorgestellt hast, vor einer sich öffnenden Tür zu stehen, denken würdest, dass eine wirklich physische Tür in deinem Körper ist, wäre das ein Irrtum! Doch wenn du dir darüber klar wirst, dass deine Konzentrationsbemühung eine mentale Form annimmt, ist das ganz richtig. Wenn du dich in der mentalen Welt bewegst, wirst du eine Menge solcher Formen sehen, alle möglichen Formen, die keine materielle Wirklichkeit haben, aber in der mentalen Welt wirklich existieren.

Du kannst nicht intensiv an etwas denken, ohne dass dein Denken eine Form annimmt. Glaube jedoch nicht, diese Form wäre physisch. Das wäre selbstverständlich ein Irrtum. Doch in der mentalen Welt existiert sie wirklich.

Vorstellungskraft ist Gestaltungsvermögen. Tatsächlich gestalten Leute, die keine Imagination haben, mental nicht sonderlich, denn sie können ihrem Denken keine konkrete Kraft geben. Vorstellungskraft ist ein sehr starkes Hilfsmittel für das Handeln. Wenn du zum Beispiel irgendwo einen Schmerz hast und du kannst dir vorstellen, dass du den Schmerz verschwinden lässt oder dass du ihn beseitigst oder dass du ihn auflöst – alle möglichen derartigen Bilder –, nun, es wird dir vollkommen gelingen.

Man erzählt sich die Geschichte von jemandem, der seine Haare auf so unglaubliche Art verlor, dass er in wenigen Wochen eine Glatze hatte. Dann sagte jemand zu ihm: „Wenn Sie sich kämmen, stellen Sie sich vor, dass Ihre Haare wachsen und dass sie sehr schnell wachsen.“ Und beim Kämmen sagte er immer: „Oh, meine Haare wachsen, sie wachsen sehr schnell…“ Und es kam so! Was aber machen die Leute meistens? Sie sagen sich: „Ach, nun fallen mir auch noch die Haare aus, und ich bekomme eine Glatze, das kommt bestimmt!“

Selbstverständlich kommt das!

Worte der Mutter

Eine sehr konkrete und sehr starke Methode, mit seinem seelischen Wesen in Berührung zu kommen, ist es, sich vor einer geschlossenen Tür in Meditation niederzusetzen, als wäre es eine schwere Bronzetür – und man setzt sich davor mit dem Willen, dass sie sich öffne, um auf die andere Seite gehen zu können. Dann sammelt sich die Konzentration, die ganze Aspiration in einem Bündel und stößt und stößt und stößt gegen diese Tür, und sie stößt immer mehr mit wachsender Energie, bis sie plötzlich aufspringt und man eintritt. Das hinterlässt einen sehr starken Eindruck: Man ist wie in Licht getaucht und hat den vollen Genuss eines plötzlichen, radikalen Bewusstseinswandels mit einer Erleuchtung, die einen ganz erfasst, und das Gefühl, dass man ein anderer Mensch wird.