Kapitel 3

Die Yoga-Systeme

Worte Sri Aurobindos

Der Kontakt des menschlichen und individuellen Bewusstseins mit dem göttlichen Bewusstsein ist die Essenz des Yoga. Yoga ist die Einung dessen, was sich im Spiel des Universums abgesondert hat, mit seinem eigenen wahren Selbst, Ursprung und universalen Sein. Dieser Kontakt kann an jedem Punkt des komplexen und kompliziert organisierten Bewusstseins, das wir unsere Personalität nennen, stattfinden. Er kann im Physischen durch den Körper bewirkt werden, im Vital durch das Wirken jener Funktionsweisen, die den Zustand und die Erfahrungen unseres nervlichen Wesens bestimmen, durch die Mentalität entweder mittels des emotionalen Herzens, des aktiven Willens oder des verstehenden Mentals oder – noch umfassender – durch eine allgemeine Umwandlung des mentalen Bewusstseins in all seinen Aktivitäten. Ebenso mag dieser Kontakt dadurch erlangt werden, dass man durch die Umwandlung des zentralen Egos im Mental direkt zur universalen oder transzendenten Wahrheit und Seligkeit erwacht. Und dem von uns gewählten Punkt des Kontakts wird auch die Art des Yoga entsprechen, den wir praktizieren.

Wenn wir nun bei den hauptsächlichen Yogaschulen, die heute noch in Indien vorherrschen, die Vielfalt ihrer besonderen Methoden beiseitelassen und unser Augenmerk allein auf ihr zentrales Prinzip richten, finden wir, dass sie sich in einer aufsteigenden Ordnung aufbauen, die von der untersten Sprosse der Leiter, vom Körper, ausgeht und bis zum direkten Kontakt zwischen der individuellen Seele und dem transzendenten und universalen Selbst emporsteigt. Der Hatha-Yoga wählt den Körper und die vitalen Funktionen als seine Instrumente zur Vervollkommnung und Verwirklichung. Sein Hauptinteresse gilt dem grobstofflichen Körper. Der Raja-Yoga bevorzugt als seine Hebelmacht das mentale Wesen in seinen verschiedenen Teilen; er konzentriert sich auf den subtilen Körper. Der dreifache Pfad des Wirkens, der Liebe und des Wissens verwendet bestimmte Teile des mentalen Wesens, nämlich den Willen, das Herz und den Intellekt als Ausgangspunkt und sucht durch deren Umwandlung zur befreienden Wahrheit, Seligkeit und Unendlichkeit zu gelangen, die die Natur des spirituellen Lebens ausmachen. Seine Methode ist ein direkter Umgang zwischen dem menschlichen Purusha im individuellen Körper und dem göttlichen Purusha, der in jedem Körper wohnt und doch jede Form und jeden Namen transzendiert.

Worte Sri Aurobindos

Das Prinzip des Yoga ist, eine der Kräfte unseres menschlichen Seins oder alle in ein Mittel zum Erlangen des göttlichen Wesens zu verwandeln. In einem gewöhnlichen Yoga wird eine vorherrschende Macht des Wesens oder eine Gruppe seiner Kräfte als Mittel, Träger oder Pfad verwendet. In einem synthetischen Yoga werden alle Mächte miteinander kombiniert und in die umgestaltende Instrumentation einbezogen.

Im Hatha-Yoga sind der Körper und das Leben die Instrumente. Durch Asana und andere körperlichen Prozesse wird die ganze Kraft des Körpers bis an ihre äußerste Grenze oder über sie hinaus beruhigt, gesammelt, geläutert, erhöht und konzentriert. In ähnlicher Weise wird die Kraft des Lebens durch Asana und Pranayama geläutert, erhöht und konzentriert. Diese Konzentration der Kräfte wird dann zu jenem physischen Zentrum gelenkt, in dem das göttliche Bewusstsein im menschlichen Körper seinen verborgenen Sitz hat. Die Kraft des Lebens, die Natur-Macht, die mit all ihren geheimen Kräften im untersten Nervenplexus des irdischen Wesens schläft – denn nur so viel dieser Kraft strömt in unsere normale alltägliche Tätigkeit ein, wie es für den begrenzten Gebrauch des menschlichen Lebens ausreicht –, entrollt sich und steigt von Zentrum zu Zentrum empor und erweckt bei ihrem Aufstieg und Durchgang die Kräfte eine jede der aufeinanderfolgenden Verknotungen unseres Wesens: das nervliche Leben, das emotionale Herz und die gewöhnliche Mentalität, das Reden, das Sehen, den Willen und das höhere Wissen, bis durch das Gehirn, und trifft oberhalb davon mit dem göttlichen Bewusstsein zusammen und wird eins mit ihm.

Im Raja-Yoga ist das Mental das erwählte Instrument. Zuerst wird unsere gewöhnliche Mentalität diszipliniert, geläutert und auf das göttliche Wesen gerichtet, dann wird durch einen zusammengefassten Prozess von Asana und Pranayama die physische Kraft unseres Wesens beruhigt und konzentriert, die Lebens-Kraft wird in eine rhythmische Bewegung umgesetzt, die aufhören kann, um sich in einer höheren Macht ihres nach oben strebenden Wirkens zu konzentrieren. Das Mental, unterstützt und gestärkt durch dieses größere Wirken und die Konzentration des Körpers und des Lebens, auf denen es ruht, reinigt sich seinerseits von all seiner Unruhe, seinen Emotionen und gewohnheitsmäßigen Gedankenwellen und wird von seiner Zerstreuung und Zersplitterung befreit, erlangt seine höchste Konzentrationskraft und zieht sich in eine Trance zurück. Zwei Ziele werden durch diese Disziplin erreicht, ein zeitlich begrenztes und ein ewiges. Die Mental-Kraft entwickelt in einer veränderten konzentrierten Wirksamkeit ungewöhnliche Fähigkeiten eines Wissens, eines wirkungsvollen Willens, eines tiefen Lichtes der Wahrnehmung und eines machtvollen Lichtes der Gedankenausstrahlung, die alle zusammen jenseits des engen Bereichs unserer normalen Mentalität liegen. Sie erlangt die yogischen oder okkulten Mächte, um die ein so großes, völlig überflüssiges, aber vielleicht heilsames Mysterium gewoben worden ist. Doch das eine Endziel und der einzige bedeutende Gewinn ist der, dass das Mental, wenn es beruhigt und in eine konzentrierte Trance entrückt ist, sich in das göttliche Bewusstsein verlieren kann und die Seele befreit wird, um sich mit dem göttlichen Wesen zu einen.

Der dreifache Pfad benutzt als seine erwählten Instrumente die drei Hauptmächte des mentalen Seelen-Lebens des menschlichen Wesens. Das Wissen wählt die Vernunft und die mentale Schau und macht sie durch Läuterung, Konzentration und eine bestimmte Disziplin eines auf Gott gerichteten Suchens zu seinen Mitteln, das höchste Wissen und die weiteste Schau, Gott-Wissen und Gott-Schau, zu erlangen. Sein Ziel ist, das Göttliche zu sehen, zu wissen und zu sein. Das Wirken wählt als sein Instrument den Willen von jenem, der die Werke vollzieht. Es macht das Leben zu einer Opfer-Darbringung an die Gottheit und benutzt es durch Läuterung, Konzentration und eine bestimmte Disziplin der Unterwerfung unter den göttlichen Willen zu einem Mittel für den Kontakt und die wachsende Einung der menschlichen Seele mit dem göttlichen Meister des Universums. Die Anbetung wählt die emotionalen und ästhetischen Mächte der Seele, und indem es sie alle in einer vollkommenen Reinheit, Intensität und unendlichen Leidenschaft des Suchens auf Gott richtet, macht es sie zu einem Mittel, Gott zu besitzen, und zwar in einer oder mehreren Beziehungen der Einheit mit dem Göttlichen Wesen. Alle streben in ihrer eigenen Weise nach einer Einung oder Einheit der menschlichen Seele mit dem höchsten Geist.

In seinen praktischen Methoden hat jeder Yoga den Charakter des Instruments, das er verwendet. So ist der Prozess beim Hatha-Yoga psycho-physisch, beim Raja-Yoga mental und psychisch, der Pfad des Wissens ist spirituell und kognitiv, der Pfad der Hingabe ist spirituell, emotional und ästhetisch, der Pfad des Wirkens spirituell und dynamisch durch Aktion. Jedes Verfahren wird durch die Methode der für es charakteristischen Macht gelenkt. Aber letzten Endes ist jede Macht eine einzige Macht, jegliche Macht ist in Wirklichkeit Seelen-Macht.

Worte Sri Aurobindos

Die Schwäche des Hatha-Yoga liegt darin, dass seine mühsamen und schwierigen Prozesse einen so großen Zeit- und Energieaufwand erfordern und daher eine völlige Loslösung aus dem gewöhnlichen menschlichen Leben verlangen, dass die Verwendbarkeit seiner Resultate für das Leben der Welt entweder undurchführbar oder in einem außerordentlichen Maße begrenzt ist. Wenn wir zum Ausgleich für diesen Verlust des gewöhnlichen Lebens ein Leben in einer anderen, in einer inneren mental‑dynamischen Welt gewinnen wollen, könnten wir solche Resultate durch andere Systeme wie durch den Raja-Yoga oder den Tantra erlangen – mit weitaus weniger mühsamen Methoden und unter weniger strengen Bedingungen. Zudem sind die physischen Resultate wie vermehrte Vitalität, lang anhaltende Jugend, Gesundheit und Langlebigkeit nur von geringem Nutzen, wenn wir sie wie Geizhälse abseits vom gemeinschaftlichen Leben und um ihrer selbst willen bei uns behalten müssen, anstatt sie nutzvoll in die Summe der gemeinsamen Aktivitäten der Welt hineinzugeben. Der Hatha-Yoga erreicht bedeutende Resultate für einen unverhältnismäßig hohen Preis und zu einem sehr geringen Zweck…

Wir sehen, dass in gleicher Weise, wie der Hatha-Yoga mit dem Leben und dem Körper umgeht und die übernormale Vervollkommnung des physischen Lebens und seiner Befähigungen erstrebt und darüber hinaus in den Bereich des mentalen Lebens eindringt, der Raja-Yoga das Mental verwendet und eine übernormale Vervollkommnung und Ausweitung der Fähigkeiten des mentalen Lebens erstrebt und darüber hinaus in den Bereich der spirituellen Existenz eindringt. Die Schwäche dieses Systems liegt darin, dass es sich zu stark auf die abnormen Zuständen der Trance verlässt. Diese Begrenzung führt zuerst zu einer gewissen Distanzierung vom physischen Leben, das unser Fundament und jene Sphäre ist, in die wir unsere mentalen und spirituellen Gewinne herniederbringen sollten. Besonders das spirituelle Leben wird in diesem System zu sehr mit dem Zustand des Samadhi in Verbindung gebracht. Dagegen ist es unser Ziel, das spirituelle Leben und seine Erfahrungen im Wachzustand und sogar im normalen Gebrauch der Funktionen völlig aktiv und völlig verwendbar zu machen. Doch im Raja-Yoga tendiert es dazu, sich auf eine zweite Ebene im Hintergrund unserer normalen Erfahrungen zurückzuziehen, anstatt herabzukommen und unsere ganze Existenz in Besitz zu nehmen.

Der dreifache Pfad der Hingabe, des Wissens und der Werke versucht sich in Bereichen, die der Raja-Yoga unberücksichtigt lässt. Er unterscheidet sich vom Raja-Yoga darin, dass er sich nicht mit dem komplizierten Training des gesamten mentalen Systems als der Voraussetzung für die Vollkommenheit befasst, sondern nur bestimmte zentrale Prinzipien herausgreift, wie den Intellekt, das Herz und den Willen, und ihre normalen Funktionen dadurch umzuwandeln versucht, indem er sie von ihren gewöhnlichen und äußeren Anliegen und Aktivitäten abwendet und sie auf das Göttliche konzentriert. Er unterscheidet sich ebenso darin – und hier scheint von der Sichtweise eines integralen Yoga aus ein Fehler zu bestehen –, dass er der mentalen und körperlichen Vervollkommnung gleichgültig gegenübersteht und nur nach deren Läuterung als einer Voraussetzung für die göttliche Verwirklichung strebt. Ein zweiter Fehler liegt darin, dass er so, wie er tatsächlich praktiziert wird, nur einen der drei parallel verlaufenden Pfade wählt und ihn fast den anderen entgegenstellt, anstatt eine synthetische Harmonie zwischen dem Intellekt, dem Herzen und dem Willen zu erwirken.

Worte Sri Aurobindos

Wenn wir hier von den aktuellen Methoden und Praktiken absehen und das zentrale Prinzip untersuchen, finden wir zunächst, dass sich der Tantra ausdrücklich von den vedischen Yoga-Methoden unterscheidet. In einem gewissen Sinn sind alle Yoga-Schulen, die wir bisher untersucht haben, in ihrem Prinzip vedantisch. Ihre Kraft liegt in der Erkenntnis, ihre Methode ist das Erkennen, obwohl diese nicht immer durch die Wahrnehmung des Intellekts erworben wird, sondern stattdessen es das Wissen des Herzens sein mag, das in der Liebe und im Glauben ausgedrückt ist, oder ein Wissen im Willen, das sich durch das Handeln ausarbeitet. In all diesen Systemen ist der Herr des Yoga der Purusha, die Bewusste Seele, die weiß, beobachtet, zu sich hinzieht und lenkt. Im Tantra ist es vielmehr Prakriti, die Natur-Seele, die Energie, der Wille-in-der-Macht, die exekutive Seite im Universum. Durch das Erforschen und Anwenden der innersten Geheimnisse dieses Willens-in-der-Macht, seiner Methode und seines Tantras, strebte der Tantra-Yogin nach den Zielen seiner Disziplin – Meisterschaft, Vollkommenheit, Befreiung und Seligkeit. Anstatt sich von der manifestierten Natur und ihren Schwierigkeiten zurückzuziehen, stellte er sich ihnen, ergriff und meisterte sie. Doch am Ende, wie es eben die allgemeine Tendenz der Prakriti ist, verlor der Tantra-Yoga größtenteils sein Prinzip in seinem Gefüge und wurde zu einer Sache von Formeln und okkulten Mechanismen, die zwar immer noch machtvoll sind, wenn sie richtig angewandt werden, aber doch von der Klarheit ihrer ursprünglichen Absicht verloren haben.

Wäre wirklich nur das unser Ziel, aus der Welt zu Gott zu fliehen, wäre eine Synthese unnötig und Zeitverschwendung. Dann müsste es unser einziges praktisches Ziel sein, einen unter den tausend Pfaden, die zu Gott führen, auszuwählen, von allen Abkürzungswegen den kürzestmöglichen zu benutzen und keine Zeit damit zu verschwenden, die verschiedenen Pfade zu erforschen, die alle im selben Ziel enden. Wenn aber unsere Absicht eine Transformation unseres integralen Wesens in die Begriffe des Gott-Seins ist, wird eine Synthese notwendig.

Wir benutzen Cookies

Wir verwenden auf unserer Website nur für den Betrieb notwendige sowie sogenannte Session Cookies, also ausdrücklich keine Werbe- oder Trackingcookies.

Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Website zur Verfügung stehen.