Kapitel 3

Die Manifestation – Der Körper Gottes

Worte Sri Aurobindos

Die Involution eines überbewussten Geistes in die unbewusste Materie ist der geheime Grund für diese sichtbare und augenscheinliche Welt. Das Schlüsselwort des Erdenrätsels ist die schrittweise Evolution einer verborgenen grenzenlosen Bewusstheit und Macht aus der scheinbar trägen, jedoch unbändig getriebenen Kraft der empfindungslosen Natur. Das Erdenleben ist die auserwählte Heimstatt einer mächtigen Gottheit, deren Wille seit Äonen darauf gerichtet ist, es aus einem finsteren Gefängnis in ein prächtiges Schloss und einen hoch zum Himmel strebenden Tempel zu verwandeln…

Diese Gottheit – ob nun in unserem Innern oder außerhalb in Gegenständen, Kräften und Geschöpfen – nahm ihren Anfang in einer Involution in die Unbewusstheit der Natur und begann mit der Manifestation ihrer scheinbaren Gegensätze. Der Geist in der Materie hat sich dafür entschieden, seine Macht, sein Licht, seine Unendlichkeit und seine Seligkeit aus einer unermesslichen kosmischen Unbewusstheit, Trägheit und Empfindungslosigkeit heraus zu entfalten, einer anfänglichen Verkleidung, die an Nichtsein grenzt, und sie allmählich wie aus einem widerstrebenden und nur langsam nachgebenden Material herauszuarbeiten.

Die Bedeutung der irdischen Evolution liegt in dieser allmählichen Befreiung eines latenten, der Natur innewohnenden Geistes. Der Kernpunkt ihres Geheimnisses ist das beschwerliche in Erscheinung Treten, das zögernde Werden eines göttlichen Etwas oder Jemand, das oder der bereits in der physischen Natur involviert ist. Der Geist ist mit all seinen potentiellen Kräften in einer ersten geformten Grundlage seiner eigenen formbaren, zugleich aber auch widerstrebenden Substanz zugegen. Seine größeren, später und mit Bedacht in Erscheinung tretenden Ausdrucksweisen – Leben, Mental, Intuition, Seele, Supramental und das Licht der Gottheit – sind bereits vorhanden, wenn auch in das anfängliche Vermögen und die zuerst offenbarten Eigenschaften der Materie eingeschlossen und darin bis zur Unkenntlichkeit verdichtet.

Ehe irgendeine Art von Evolution vor sich gehen konnte, musste notwendigerweise diese Involution der zu offenbarenden Göttlichen Gesamtheit stattgefunden haben. Sonst wäre keine geordnete und sinnvolle Evolution erfolgt, sondern eine sukzessive Schöpfung unvorhersehbarer Dinge, die weder im Vorausgegangenen enthalten noch dessen unausweichliche Konsequenzen oder Nachfolger (entsprechend einer bestimmten Reihenfolge) hätten sein können.

Diese Welt ist keine von einem unerklärlichen Zufall regierte Scheinordnung. Ebensowenig ist sie ein imposanter Mechanismus, den eine von einem Glücksfall zum anderen stolpernde unbewusste Kraft oder mechanische Notwendigkeit auf wundersame Weise ausgeklügelt hat. Sie ist nicht einmal eine von einem außerhalb seiner Schöpfung stehenden und darum notwendig begrenzten Schöpfer nach seiner Laune oder Willkür errichtete Struktur. Jede dieser möglichen Theorien kann eine Seite oder Ansicht der Dinge erklären; aber nur einer größeren Wahrheit wird es gelingen, alle Seiten des Rätsels zusammenzufügen und sie als Gesamtheit zu erhellen.

Wenn alles tatsächlich das Ergebnis eines kosmischen Zufalls wäre, bestünde keinerlei Notwendigkeit zu einem weiteren Schritt nach vorn. Nichts dem Mental Überlegenes bräuchte in der materiellen Welt zu erscheinen, so wie ja dann auch schon für das Mental keine Notwendigkeit bestanden hätte, aus dem blinden und sinnlosen materiellen Wirbel aufzutauchen. Das Bewusstsein wäre eine zufällige Begleiterscheinung, eine sonderbare sinnestäuschende Reflexion oder ein bloßer Spuk der Materie.

Wenn sich andererseits alles auf das Wirken einer mechanischen Kraft zurückführen ließe, dann hätte das Mental ebensowenig als ein Teil der riesigen knirschenden Maschinerie zu erscheinen brauchen; nichts hätte diese feinere und noch weniger kompetente, diese ungeschickte mechanische Vorrichtung erforderlich gemacht. Kein anfälliges denkendes Gehirn wäre vonnöten gewesen, sich zusätzlich zu den völlig ausreichenden Zahnrädern, Federn und Kolben der ursprünglich fehlerfreien Maschine abzumühen. In noch höherem Maße wäre es überflüssig und eine edle Unverschämtheit, zu dieser bereits genügend schmerzhaft-genialen Komplikation noch ein Supramental hinzuzufügen. Dabei könnte es sich um nichts anderes handeln als den ungerechtfertigten Anspruch des vergänglichen Bewusstseins, über die größere unbewusste Kraft zu verfügen, die sein Schöpfer ist.

Wenn schließlich ein experimentierender, außerweltlicher und deshalb in seiner Macht begrenzter Schöpfer der Erfinder des leidvollen Lebens der Tiere, des unbeholfenen Mentals der Menschen und dieses riesigen, so gut wie ungenutzten und unnützen Weltalls wäre, dann gäbe es keinen Grund, weshalb er sich nicht mit der einzigartigen Genialität seiner Arbeit zufrieden gegeben und mit einer mentalen Intelligenz in seinen Geschöpfen begnügt hätte. Selbst wenn er allmächtig und in Besitz absoluter Weisheit wäre, könnte er durchaus an dieser Stelle haltmachen. Ginge er nämlich weiter, so liefe sein Geschöpf Gefahr, dem Rang seines Schöpfers zu nahe zu rücken.

Wenn es aber wahr ist, dass ein unendlicher Geist, eine ewige Göttliche Gegenwart, ein Bewusstsein und eine Kraft und Seligkeit hier involviert und verborgen ist und langsam hervortritt, dann ist es unausweichlich, dass ihre Mächte – oder die verschiedenen Grade ihrer einen Macht – ebenfalls eine um die andere hervortreten, bis die ganze Herrlichkeit manifestiert und ein göttliches Faktum verkörpert, dynamisch und sichtbar ist.

Worte Sri Aurobindos

Das Göttliche, das wir verehren, ist nicht nur eine ferne außerkosmische Wirklichkeit, sondern eine halbverhüllte Manifestation, die uns hier im Universum gegenwärtig und nahe ist. Das Leben ist das Feld für eine noch nicht vollendete göttliche Offenbarung: wir müssen hier im Leben, auf der Erde, im Körper – ihaiva [selbst hier], wie die Upanishaden betonen –, die Gottheit enthüllen; hier müssen wir unserem Bewusstsein ihre transzendente Größe, ihr Licht und ihre wunderbare Lieblichkeit zu etwas Wirklichem machen. Hier müssen wir das Göttliche besitzen und, soweit das möglich ist, zum Ausdruck bringen.