Kapitel 3
Die innere Selbstentfaltung
Worte Sri Aurobindos
Es gibt, um es so auszudrücken, zwei Wesen in uns: eines an der Oberfläche, unser gewöhnliches äußeres Mental-, Lebens- und Körper-Bewusstsein, und ein anderes hinter dem Schleier, ein inneres Mental, ein inneres Leben, ein inneres physisches Bewusstsein, die ein ganz anderes oder inneres Selbst bilden. Dieses innere Selbst, sobald es einmal erwacht ist, öffnet sich seinerseits unserem wahren, wirklichen, ewigen Selbst. Es öffnet sich innerlich der Seele, die in der Sprache dieses Yoga das seelische Wesen genannt wird, das unsere aufeinanderfolgenden Geburten stützt und in jedem Leben ein neues Mental, Leben und einen neuen Körper annimmt. Und es öffnet sich nach oben dem ungeborenen Selbst oder Geist, und indem wir es bewusst wiederentdecken, überschreiten wir die sich verändernde Oberflächen-Persönlichkeit und erreichen die Freiheit und volle Meisterung über unsere Natur.

Worte Sri Aurobindos
Der erste Prozess im Yoga besteht deshalb darin, die Bereiche dieses inneren Wesens zu öffnen und von da nach außen zu leben und das eigene äußere Leben durch ein inneres Licht und eine innere Kraft zu lenken.

Worte Sri Aurobindos
Wenn das seelische Wesen erwacht ist, gibt es dir die wahre bhakti für Gott oder den Guru. Diese bhakti ist durchaus verschieden von der mentalen oder vitalen bhakti.
Man mag mit dem Verstand die intellektuelle oder spirituelle Größe des Gurus bewundern oder schätzen – man mag ihm folgen und seine Gebote mental annehmen. Es ist aber nur etwas Mentales, es bringt die Sache nicht viel weiter. Natürlich schadet es nichts, auch das zu haben. Doch das allein öffnet noch nicht die Gesamtheit des inneren Wesens. Es wird lediglich ein mentaler Kontakt hergestellt.
Die vitale bhakti fordert und fordert. Sie auferlegt ihre eigenen Vorbehalte. Sie gibt sich Gott hin, aber bedingt. Sie sagt zu Gott: „Du bist groß, ich bete dich an, und nun befriedige mir diesen Wunsch oder jenen Ehrgeiz, mache mich groß, mache einen großen Sadhak, einen großen Yogi aus mir und so weiter.“
Auch das unerleuchtete Mental gibt sich der Wahrheit hin, stellt aber seine eigenen Bedingungen. Es sagt zur Wahrheit: „Füge dich meinem Urteil und meiner Meinung“, und es verlangt von der Wahrheit, dass sie sich in die dem Mental eigenen Formen pressen lässt.
Auch das vitale Wesen besteht darauf, dass die Wahrheit sich seiner eigenen Kraft-Bewegung anpasst. Das vitale Wesen saugt an der Höheren Macht und zieht und saugt am vitalen Wesen des Gurus.
Die Hingabe von beiden, Mental und Vital, enthält eine arrière pensée, einen mentalen Vorbehalt.
Das seelische Wesen mit seiner bhakti ist aber anders. Es ist der wahren bhakti fähig, weil es in direkter Verbindung mit der Gottheit im Hintergrund steht. Seelische bhakti stellt keine Forderung und macht keine Vorbehalte. Sie findet Erfüllung in ihrem eigenen Sein. Das seelische Wesen weiß, wie es der Wahrheit in der rechten Weise zu gehorchen hat. Es gibt sich Gott oder dem Guru wahrhaft hin, und weil es sich wahrhaft aufgeben kann, kann es auch wahrhaft empfangen.
Das seelische Wesen ist traurig, wenn es an die Oberfläche kommt und sieht, wie das mentale oder vitale Wesen einen Narren aus sich macht. Diese Traurigkeit ist verletzte Reinheit.
Wenn das Mental sein eigenes Spiel spielt oder das Vital von seinen eigenen Impulsen fortgerissen wird, ist es das seelische Wesen, welches sagt: „Ich will diese Dinge nicht. Wozu bin ich letzten Endes hier? Um der Wahrheit und nicht um dieser Dinge willen bin ich hier.“
Seelische Traurigkeit wiederum unterscheidet sich von mentalem Unbefriedigtsein oder vitaler Traurigkeit oder physischer Niedergeschlagenheit.
Wenn das seelische Wesen stark ist, macht es sich im mentalen oder vitalen Wesen fühlbar, es drängt sie, zwingt sie, sich zu ändern. Wenn es aber schwach ist, nutzen das die anderen (mentalen oder vitalen) Teile aus und ziehen aus der seelischen Traurigkeit ihren eigenen Vorteil.
In einigen Fällen kommt das seelische Wesen an die Oberfläche und verwirrt das mentale oder vitale Wesen und bringt alles in Unordnung. Ist das Mental oder das vitale Wesen aber stärker als das seelische, dann übt das seelische Wesen nur einen gelegentlichen Einfluss aus und zieht sich allmählich zurück. Sein Ruf verhallt in der Wildnis, und das mentale oder vitale Wesen dreht seine eigenen Runden weiter.
Und letztlich lässt sich das seelische Wesen durch äußeren Anschein nicht täuschen. Es lässt sich von der Falschheit nicht verleiten. Es lässt sich durch die Falschheit weder deprimieren noch übertreibt es die Wahrheit. Zum Beispiel, wenn jedermann ringsumher sagt: „Es gibt keinen Gott“, dann weigert sich die Seele, es zu glauben. Sie sagt: „Ich weiß es, und ich weiß es deshalb, weil ich es fühle.“
Und da sie die Sache im Hintergrund kennt, wird sie durch Erscheinungen nicht getäuscht. Sie fühlt sofort die Kraft.
Und außerdem beseitigt das seelische Wesen, wenn es erwacht ist, alle Schlacken aus dem emotionalen Wesen und befreit es von Sentimentalität oder dem niederen Spiel der Emotionalität.
Ihm ist aber nicht die Trockenheit des Mentals oder die Übertriebenheit der vitalen Gefühle eigen. Es gibt jedem Gefühl die richtige Note.

Worte der Mutter
Liebe Mutter, wie kann man seine seelische Personalität wachsen lassen?
Durch alle Erfahrungen des Lebens formt sich die seelische Personalität, sie wächst, entwickelt sich und wird schließlich ein vollständiges, bewusstes und freies Wesen.
Dieser Entwicklungsprozess setzt sich unermüdlich durch unzählige Leben fort, und wenn man sich dessen nicht bewusst ist, so deshalb, weil man sich seines seelischen Wesens nicht bewusst ist, denn das ist der unerlässliche Ausgangspunkt. Durch Verinnerlichung und Konzentration muss man in bewussten Kontakt mit seinem seelischen Wesen treten. Dieses seelische Wesen hat stets einen Einfluss auf das äußere Wesen, doch ist dieser Einfluss beinahe immer verborgen, er wird weder gesehen noch gefühlt, es sei denn bei wahrhaft außergewöhnlichen Gelegenheiten.
Um den Kontakt zu stärken und – wenn möglich – die Entwicklung der bewussten seelischen Personalität zu fördern, sollte man sich während der Konzentration ihr zuwenden und danach streben, sie zu erkennen und zu fühlen, man sollte sich öffnen, um ihren Einfluss zu empfangen, und große Sorge tragen, dass man jedes Mal, wenn man einen Hinweis von ihr empfängt, ihm sehr genau und gewissenhaft folgt. In großer Aspiration zu leben, dafür zu sorgen, dass man innerlich möglichst ruhig wird und bleibt, eine vollkommene Aufrichtigkeit in allen Tätigkeiten seines Wesens zu kultivieren – dies sind die essentiellen Voraussetzungen für das Wachsen des seelischen Wesens.
