Kapitel 3

Die Evolution des Bewusstseins

Alles Leben hier ist ein Stadium oder ein Umstand der fortschreitenden Evolution eines Geistes, der sich in der Materie involviert hat und nun darauf hinarbeitet, sich in dieser widerstrebenden Substanz zu manifestieren. Dies ist das ganze Geheimnis des irdischen Daseins.

Doch der Schlüssel zu diesem Geheimnis ist nicht im Leben selbst oder im Körper zu suchen. Das Schlüsselwort findet sich weder im Embryo noch im Organismus, denn diese sind nur physische Hilfsmittel oder Grundlagen: Das einzig wahrhaft bedeutsame Rätsel dieser Welt ist das Auftreten und Wachsen des Bewusstseins in der ungeheuren stummen Gedankenlosigkeit der Materie. Das Ausströmen von Bewusstsein aus einer scheinbaren anfänglichen Nichtbewusstheit – verhüllt und latent war es stets zugegen, denn sogar die Nichtbewusstheit der Materie ist nur ein verkapptes Bewusstsein – sowie das Ringen des Bewusstseins nach Selbstfindung, sein Streben nach der ihm eingeborenen Ganzheit, Vollkommenheit, Freude, Stärke, Meisterschaft, Harmonie, Freiheit und nach seinem inhärenten Licht – dies ist das anhaltende Wunder und doch das natürliche und alles erklärende Phänomen, dessen Beobachter, Bestandteil, Werkzeug und Vermittler wir alles in einem sind.

Ein Bewusstsein, ein Sein, eine Macht, eine Freude waren hier von Anbeginn eingesperrt in dieser scheinbaren Leugnung ihrer selbst, dieser ursprünglichen Nacht, dieser Dunkelheit und Unwissenheit der materiellen Natur. Jenes, das ist und immer war, das für immer frei, vollkommen, ewig und unendlich ist, das alles ist, Jenes, das wir Gott, Brahman, Geist nennen, hat sich hier in sein eigenes selbstgeschaffenes Gegenteil eingeschlossen. Der Allwissende hat sich selbst in das Nichtwissen versenkt, der Allbewusste in die Nichtbewusstheit, der Allweise in ständige Unwissenheit. Der Allmächtige hat sich in einer unermesslichen kosmischen Trägheit verkörpert, die nur ihrem eigenen Antrieb gehorcht und nur durch Auflösung schafft. Das Unendliche hat sich durch eine grenzenlose Zersplitterung zum Ausdruck gebracht. Der Allselige hat eine ungeheure Empfindungslosigkeit angelegt, aus der er sich mit Kummer, Schmerz, Hunger und Begehren als seinen Mitteln freikämpft. Woanders ist das Göttliche. Hier im körperlichen Leben, in dieser düsteren materiellen Welt scheint es beinahe so zu sein, als wäre das Göttliche noch nicht, sondern sei erst im Werden, Theos ouk estin alla gignetai. Dieses allmähliche Werden des Göttlichen aus seinen eigenen, phänomenal gegebenen Gegensätzen ist der Sinn und der Zweck der irdischen Evolution.

Die Essenz der Evolution besteht nicht in der Entwicklung eines immer besser organisierten Körpers oder eines immer leistungsfähigeren Lebens – diese stellen nur die Maschinerie und die äußeren Umstände. Die Evolution ist das Ringen eines in der Materie schlafwandelnden Bewusstseins nach äußerstem Erwachen, nach höchster Freiheit, letzter und weitester Selbstfindung und nach völligem Besitz seiner selbst und aller seiner Möglichkeiten. Die Evolution ist die Emanzipation einer in Form und Kraft verborgenen Seele, die sich offenbart. Sie ist das langsame Werden einer Gottheit, das Wachsen eines göttlichen Geistes.

Der mentale Mensch ist weder das Ziel noch der Zweck, weder die Erfüllung noch der letzte und höchste Sinn dieser Evolution. Er ist zu unbedeutend und zu unvollkommen, um die Quintessenz aller dieser Geburtswehen der Natur zu sein. Der Mensch ist nicht endgültig. Er ist ein Übergangswesen, ein instrumentales Provisorium.

Dieser Charakter der Evolution und diese überleitende Rolle des Menschen sind nicht sogleich offensichtlich. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte es so aussehen, als wäre die Evolution – zumindest die physische Evolution – mit dem Menschen als ihrem besten und doch so ärmlichen Ergebnis an ihrem Ende angelangt, als wären keine neuen Wesen, keine höheren Schöpfungen mehr zu erwarten. Dieser Anschein kann jedoch nur solange bestehen, wie wir unseren Blick auf die äußeren Formen richten statt auf die innere Bedeutung des ganzen Vorgangs. Im Grunde sind nämlich die Materie, die körperliche Existenz und das Leben nichts anderes als die notwendigen Vorbedingungen der zu vollbringenden Aufgabe. Wenn es zutrifft, dass neue lebende Formen nicht länger spontan auftreten, dann nur deshalb nicht, weil die evolutionäre Kraft jetzt entweder überhaupt nicht oder nicht in erster Linie mit der Evolution solcher Formen beschäftigt ist, sondern mit der Entfaltung neuer Fähigkeiten des Bewusstseins. Sobald die Natur, als Göttliche Macht, einen aufrechten Körper geformt hatte, der zu denken und zu planen vermochte, der in der Lage war, sich selbst und die äußere Welt zu erforschen und bewusst auf die Welt und sich selbst einzuwirken, hatte sie, was sie zum Erreichen ihres geheimen Ziels benötigte. Sie verwies alles andere auf den zweiten Rang und richtete alle ihre höheren Kräfte auf dieses lange verborgene Ziel. Bis dahin bestand alles in einer langen, sorgfältigen und beharrlichen Vorbereitung. Die ganze Zeit hindurch war jedoch die Entwicklung des Bewusstseins mit dem Auftreten des Menschen als dem entscheidenden Wendepunkt in ihr eingehüllt als ihr letztes Anliegen und ihr wahres Ziel.

Diese langsame Vorbereitung der Natur erstreckte sich über ungeheure Zeitspannen und endlose Räume, in denen diese ihr einziges Begehren zu sein schien. Ihr eigentliches Anliegen kommt uns dagegen so vor – wenigstens wenn wir es mit dem nach außen gerichteten Blick des Verstandes betrachten –, als hätte es sich zu guter Letzt als ein Zufall ergeben, und auch dies nur für eine bestimmte Zeit unter diesen vielen unbegrenzten Endlichkeiten, diesen zahllosen Universen und auf einem winzigen Fleckchen in einem kaum bemerkbaren Winkel einer der kleineren Milchstraßensysteme eines möglicherweise unbedeutenden Universums. Wenn dem so wäre, könnten wir immer noch entgegnen, dass für das Unendliche und Ewige Zeit und Raum keine Bedeutung haben. Für Jenes ist es keine vergeudete Mühe – wie es das für unser kurzes, vom Tod gehetztes Leben wäre, Trillionen von Jahren hindurch zu arbeiten, um für einen einzigen Augenblick zu erblühen. Doch auch dieses Paradoxon besteht nur scheinbar, da die Geschichte dieser einen Erde nicht die ganze Geschichte der Evolution ist. Auch jetzt gibt es anderswo andere Erden, und selbst hier gingen uns viele Erdzyklen voraus und viele werden auf uns folgen.

Die Natur mühte sich für ungezählte Millionen von Jahren, ein mit lodernden Sonnen und Sternsystemen erfülltes Weltall zu schaffen. Für eine geringere, doch immer noch unabsehbare Anzahl von Jahrmillionen konzentrierte sie sich darauf, diese Erde zu einem bewohnbaren Planeten zu machen. Während dieser ganzen Zeit war sie allein mit der Evolution der Materie beschäftigt, zumindest dem Anschein nach. Das Leben und das Mental blieben in einem scheinbaren Nichtsein verborgen. Doch es kam die Zeit, da das Leben sich manifestieren konnte, zuerst als eine Schwingung im Metall, dann als ein Wachsen und Suchen, ein sich nach innen Zurückziehen und ein auswärts Fühlen in der Pflanze, schließlich als instinktmäßiges Verhalten und als Sinneswahrnehmung, als eine Verflechtung von Freude, Schmerz, Hunger, Empfindung, Angst und Kampf im Tier – ein erstes organisiertes Bewusstsein und der Anfang des so lange vorbereiteten Wunders. Von da an war sie nicht mehr ausschließlich mit der Materie um ihrer selbst willen beschäftigt, sondern vor allem mit dem pulsierenden, für die Lebensentfaltung geeigneten Protoplasma. Die Evolution des Lebens wurde zu ihrem einzigen mit Eifer verfolgten Ziel. Langsam manifestierte sich dann auch das Mental im Leben, erst als ein intensiv fühlendes, ein unfertiges denkendes und planendes vitales Mental im Tier, im Menschen dann jedoch voll organisiert und ausgestattet als das zwar noch unvollkommene, aber sich ständig weiterentwickelnde mentale Wesen, als der Manu, das denkende, sinnende, sich sehnende und bereits selbstbewusste Geschöpf. Und von diesem Zeitpunkt an war weniger eine tiefgreifende Veränderung des Lebens als vielmehr das Wachstum des Mentals – dieses wunderbare Abenteuer – ihre vorrangige Beschäftigung. Die Evolution des Körpers schien damit an ihrem Ende angelangt zu sein. Das Leben selbst evolvierte nur noch wenig und nur so weit, wie es dem Ausdruck des Mentals dienlich war, das nun im lebenden Körper eine Erhöhung und Ausweitung erfuhr. Eine unsichtbare innere Evolution wurde die große Absicht und Leidenschaft der Natur.

Und wenn das Mental alles für das Bewusstsein Erreichbare wäre, wenn das Mental selbst die geheime Gottheit wäre, wenn es nichts Höheres gäbe, keine ausgedehnteren, wundervolleren Bereiche, müsste es dem Menschen gestattet sein, sein Mental und sich selbst zu vollenden. Jenseits von ihm gäbe es dann nichts oder bräuchte es nichts zu geben, was das Bewusstsein zu seinen eigenen Gipfeln trägt, was ihm seine grenzenlosen Weiten erschließt, was mit ihm in unergründliche Tiefen taucht. Er würde die Natur dadurch zu ihrer Erfüllung führen, dass er sich selbst vollendet. Die Evolution würde mit einem Menschen-Gott als der Krone der irdischen Zyklen enden.

Aber das Mental ist nicht alles. Jenseits des Mentals gibt es ein größeres Bewusstsein, ein Supramental und einen Geist. So wie die Natur im Tier, dem vitalen Wesen, darum bemüht war, aus ihm heraus den Menschen zu manifestieren, den Manu, den Denker, so müht sie sich hart im Menschen, dem mentalen Wesen, um aus ihm heraus eine spirituelle und supramentale Gottheit zu manifestieren, den wahrheitsbewussten Seher, den durch Identität Wissenden, das verkörperte Transzendente und Universale in der individuellen Natur.

Von der Scholle und dem Metall zur Pflanze, von der Pflanze zum Tier, vom Tier zum Menschen – soweit hat ihre Reise sie bisher geführt; ein gewaltiger Abschnitt oder ein riesiger Sprung steht ihr noch bevor. Wie einst von der Materie zum Leben und vom Leben zum Mental, so muss sie nun vom Mental zum Supramental übergehen, vom Menschen zum Übermenschen. Dies ist der Abgrund, den sie zu überbrücken, das äußerste Wunder, das sie zu vollbringen hat, ehe sie sich von ihrem Kampf und ihrer Unzufriedenheit erholen und verherrlicht und verwandelt im Glanz jenes höchsten Bewusstseins stehen kann, zufrieden mit ihrer Arbeit.

Das Untermenschliche war einst ihr Höchstes. Das Menschliche löste es ab und schreitet nun der Zeit voraus. Aber noch immer wartet vor ihr als das Ziel und die Hoffnung der Zukunft das Supramental, der Übermensch, eine noch nicht geborene, noch unerreichte Herrlichkeit.

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