Kapitel 3

Der 15. August 1947

Botschaft Sri Aurobindos auf Bitten von All India Radio, Trichinopoly, am Vorabend der Befreiung Indiens und seines 75. Geburtstages (lange Version).

Der 15. August ist der Geburtstag des freien Indien. Er markiert für das Land das Ende der alten Ära, den Beginn eines neuen Zeitalters. Aber er hat Bedeutung nicht nur für uns sondern für Asien und für die ganze Welt; denn er bedeutet, dass in die Gemeinschaft der Nationen eine neue Kraft mit unermesslichen Möglichkeiten eintritt, die eine große Rolle zu spielen hat bei der Bestimmung der politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und spirituellen Zukunft der Menschheit. Für mich persönlich muss es natürlich erfreulich sein, dass dieses Datum – welches für mich nur insofern Bedeutung hatte, als es mein Geburtstag war, der alljährlich von jenen gefeiert wurde, die meine Lebensbotschaft akzeptiert haben – diese ungemeine Bedeutung erlangt hat. Als Mystiker nehme ich diese Übereinstimmung nicht als bloße Koinzidenz oder Zufall, sondern als Bestätigung und Siegel der Göttlichen Kraft, die meine Schritte bei dem Werk lenkt, mit dem ich mein Leben begann. Tatsächlich kann ich beobachten, wie fast alle Weltbewegungen, die ich zu Lebzeiten erfüllt zu sehen hoffte, obgleich sie einst wie unerfüllbare Träume erschienen, an diesem Tag entweder ihrer Reifung entgegensehen oder in Gang gebracht sind und sich auf dem Weg zu ihrem Ziel befinden.

Aus diesem großen Anlass wurde ich um eine Botschaft gebeten, aber ich bin vielleicht kaum in der Lage, eine solche zu geben. Doch dies kann ich tun, eine persönliche Erklärung über die Ziele und Ideale abgeben, die ich in meiner Kindheit und Jugend konzipiert habe und die jetzt erste Ansätze ihrer Erfüllung zeigen; sie sind wichtig für die Freiheit Indiens, da sie ein Teil dessen sind, was meiner Meinung nach Indiens künftige Aufgabe ist, etwas, worin das Land unweigerlich eine führende Position einnehmen muss. Denn ich habe stets daran festgehalten und gesagt, dass Indien sich nicht erhebe, bloß um seinen materiellen Interessen zu dienen, um zu expandieren, Größe, Macht und Wohlstand zu gewinnen –, obgleich auch diese Dinge nicht vernachlässigt werden dürfen –, und sicher nicht wie andere, um Herrschaft über andere Völker zu erlangen, sondern um als Helfer und Lenker der ganzen menschlichen Rasse auch für Gott und die Welt zu leben. Diese Ziele und Ideale heißen in ihrer natürlichen Reihenfolge: eine Revolution, die Indiens Freiheit und Einheit vollbrächte; die Wiedererweckung und Befreiung Asiens und seine Rückkehr zu der großen Rolle, die es im Fortschritt menschlicher Zivilisation spielte; die Erhebung der Menschheit zu einem neuen, größeren, besseren und edleren Leben, das zu seiner vollständigen Verwirklichung äußerlich auf einer internationalen Vereinigung getrennt lebender Völker ruhen würde, wobei deren nationales Leben bewahrt und gesichert wird, die Völker aber in einer übergeordneten und erfüllenden Einheit zusammengeführt werden; Indiens Gabe seines spirituellen Wissens und seiner Mittel für die Spiritualisierung des Lebens an die ganze Menschheit; und schließlich ein neuer Schritt in der Evolution, durch den mittels Erhebung des Bewusstseins auf eine höhere Ebene die Lösung jener vielen Daseinsprobleme in Angriff genommen würde, die die Menschheit verwirrt und geplagt haben, seit Menschen von individueller Vollkommenheit und einer vollkommenen Gesellschaft zu denken und zu träumen begannen.

Indien ist frei, aber es hat keine Einheit erlangt, nur eine gespaltene und gebrochene Freiheit. Zeitweilig schien es fast, als ob es in das Chaos separater Staaten zurückfallen könnte, wie sie vor der britischen Eroberung bestanden. Glücklicherweise hat sich jetzt eine große Chance ergeben, dass dieser verheerende Rückfall vermieden werden kann. Die zu Recht durchgreifende Politik der Verfassunggebenden Versammlung ermöglicht es, dass das Problem der unterdrückten Klassen ohne Schisma oder Spaltung gelöst werden kann. Aber die alte Teilung in die Religionsgemeinschaften der Hindus und Moslems scheint sich in Form einer permanenten politischen Teilung des Landes verhärtet zu haben. Es bleibt zu hoffen, dass der Kongress und die Nation diese Tatsache nicht als unumkehrbar akzeptieren, sondern eher als einen vorübergehenden Notbehelf betrachten. Denn wenn die Teilung fortdauert, kann Indien ernsthaft geschwächt, ja, verkrüppelt werden: Bürgerkrieg bliebe stets möglich, möglich wären sogar eine neue Invasion und Fremdherrschaft. Die Teilung des Landes muss verschwinden –, es bleibt zu hoffen, dass dies durch ein Nachlassen der Spannungen geschieht, durch ein wachsendes Verständnis für die Notwendigkeit des Friedens und der Eintracht, durch das ständige Erfordernis gemeinsamen und konzertierten Handelns sowie auch eines Einigungsinstrumentes zu diesem Zweck. Auf diese Weise kann Einheit, in welcher Form auch immer, zustande kommen – die exakte Form kann pragmatische, muss keine fundamentale Bedeutung haben. Aber die Teilung muss und wird – mit welchen Mitteln auch immer – verschwinden. Andernfalls könnte die Bestimmung Indiens ernsthaft beeinträchtigt und sogar vereitelt werden. Das darf jedoch nicht geschehen.

Asien hat sich erhoben, und weite Teile sind befreit worden oder werden in diesem Augenblick befreit; seine übrigen, noch unterworfenen Teile bewegen sich durch alle möglichen Kämpfe auf Freiheit hin. Nur wenig bleibt zu tun, und das wird heute oder morgen getan werden. Dabei hat Indien seine Rolle zu spielen und begonnen, sie mit Energie und Können zu spielen, was bereits das Maß seiner Möglichkeiten und den Platz aufzeigt, den es im Rat der Nationen einnehmen kann.

Die Vereinigung der Menschheit ist im Werden, wenn auch nur mit unvollkommener Initiative, organisiert aber ankämpfend gegen enorme Schwierigkeiten. Doch der Impuls ist da, und wenn die Erfahrung der Geschichte als Leitfaden herangezogen werden darf, muss die Vereinigung unweigerlich wachsen, bis sie den Sieg davonträgt. Auch hier hat Indien eine hervorragende Rolle zu spielen begonnen, und wenn es eine höhere Staatskunst entwickeln kann, die nicht durch die gegenwärtigen Fakten und unmittelbaren Möglichkeiten begrenzt ist, sondern in die Zukunft blickt und diese näher bringt, kann seine Gegenwart den ganzen Unterschied ausmachen zwischen einer langsamen, zögerlichen und einer mutigen, schnellen Entwicklung. Zwar kann eine Katastrophe eintreten und unterbrechen oder zerstören, was gerade geleistet wird, aber selbst dann ist das letztliche Ergebnis sicher. Denn in jedem Fall ist die Vereinigung im Laufe der Natur notwendig, eine zwangsläufige Bewegung, und ihre Vollbringung lässt sich als gewiss vorhersagen. Auch ihre Notwendigkeit für die Nationen ist ersichtlich, denn ohne sie kann die Freiheit der kleinen Völker hernach niemals sicher sein, und selbst große und mächtige Nationen können sich nicht wirklich sicher fühlen. Indien wird, wenn es geteilt bleibt, selbst nicht seiner Sicherheit gewiss sein. Es ist daher im Interesse aller, dass die Einheit kommt. Nur menschliche Dummheit und törichte Selbstsucht könnten sie verhindern. Dagegen kämpfen zwar, wie man sagt, selbst die Götter vergebens; aber sie können nicht auf immer gegen die Notwendigkeit der Natur und den Göttlichen Willen bestehen. Der Nationalismus hat sich dann erfüllt; ein internationaler Geist und eine internationale Sicht der Dinge müssen sich dann heranbilden und ebenso internationale Formen und Institutionen. Selbst solche Entwicklungen wie doppelte oder mehrfache Staatsbürgerschaft, eine freiwillige Verschmelzung von Kulturen können dabei im Wandlungsprozess eintreten, und der Geist des Nationalismus kann, indem er seine Militanz verliert, diese Dinge vollkommen vereinbar finden mit der Ganzheit seiner eigenen Anschauung. Ein neuer Geist der Einheit wird die Menschheit ergreifen.

Die spirituelle Gabe Indiens an die Welt hat bereits begonnen. Indiens Spiritualität hält in ständig zunehmendem Umfang Einzug in Europa und Amerika. Diese Bewegung wird noch wachsen. Inmitten der Desaster der Zeit richten sich immer mehr Augen hoffnungsvoll auf Indien, und man sucht zunehmend sein Heil nicht nur in dessen Lehren, sondern auch in seiner seelischen und spirituellen Praxis.

Das Übrige ist eine persönliche Hoffnung, eine Idee und ein Ideal, das längst in Indien und im Westen Menschen, die in die Zukunft blicken, in seinen Bann zieht. Die Schwierigkeiten auf dem Weg sind gewaltiger als in jedem anderen Bereich menschlicher Anstrengung, aber Schwierigkeiten sind dazu da, um überwunden zu werden, und wenn der Höchste Wille vorhanden ist, werden sie überwunden. Wenn diese Evolution stattfinden soll, kann auch hier die Initiative von Indien ausgehen, da sie durch ein Wachstum des Geistes und des inneren Bewusstseins kommen muss, und obgleich ihre Reichweite allumfassend sein muss, mag die zentrale Bewegung diejenige Indiens sein.

Solcherart ist der Inhalt, den ich in dieses Datum von Indiens Befreiung lege. Ob und wie weit und wie bald diese Verknüpfung erfüllt wird, hängt von dem neuen und freien Indien ab.

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