KAPITEL 20
DAS PSYCHISCHE WESEN
Das wahre zentrale Wesen in uns ist die Seele, aber dieses Wesen hält sich im Hintergrund, und ist in den meisten menschlichen Naturen nur der geheime Beobachter, oder eine Art konstitutioneller Herrscher, der seinen Ministern erlaubt, für ihn zu regieren, der seine Oberherrschaft an sie delegiert, schweigend ihren Entscheidungen zustimmt, und nur hin und wieder ein Wort einlegt, über das sie sich jedoch in jedem Augenblick hinwegsetzen können, um anders zu handeln. Aber das geht nur, solange die seelische Persönlichkeit, deren Ausdruck vom psychischen Wesen in den Vordergrund gebracht wird, noch nicht genügend entwickelt ist – wenn sie stark genug ist, sodass das innere Wesen sich durch sie durchsetzen kann, ist die Seele in der Lage nach außen zu kommen, und die Natur zu leiten. Durch dieses Hervortreten des wahren Monarchen und seine Übernahme der Führung der Natur kann eine wirkliche Harmonisierung unseres Wesens und unseres Lebens stattfinden. (99)
SRI AUROBINDO

Süße Mutter, gibt es in jedem Menschen ein spirituelles Wesen?
Das hängt davon ab, was wir unter einem „Wesen“ verstehen. Wenn wir „Wesen“ durch das Wort „Präsenz“ ersetzen, dann können wir sagen: Ja, es gibt eine spirituelle Präsenz in jedem. Wenn wir mit „Wesen“ eine sich organisierende selbstständige Einheit bezeichnen die unabhängig ist, und die Kraft hat sich selbst durchzusetzen und den Rest der Natur zu leiten, dann können wir sagen: Nein! Jeder trägt die Möglichkeit in sich, dieses unabhängige allmächtige Wesen zu verwirklichen, aber die Verwirklichung dieser Möglichkeit ist das Resultat langer Bemühungen, die sich manchmal über mehrere Leben erstrecken.
In jedem existiert diese spirituelle Präsenz, dieses Licht, von Anfang an… Ich habe es nicht selten in bestimmten Tieren gesehen. Sie ist wie ein leuchtender Punkt, der die Grundlage für eine gewisse Kontrolle und einen Schutz bildet, sogar, wenn sie nur halb bewusst entwickelt ist, etwas, das eine Harmonie mit dem Übrigen der Schöpfung ermöglicht und verhindert, dass selbst nicht wieder gut zu machende Katastrophen anhalten oder sich allgemein ausbreiten können. Ohne die unmittelbare Nähe dieses Lichtes wäre die Unordnung, die durch die Feindseligkeiten und Leidenschaften der vitalen Natur verursacht wird, so groß, dass sie in jedem Moment zu einer allgemeinen Katastrophe, zu einer Art völliger Zerstörung führen könnte, die den Fortschritt in der Evolution der Natur verhindern würde. Diese Präsenz, dieses spirituelle Licht – das man beinah als ein spirituelles Bewusstsein bezeichnen könnte – existiert im Innern eines jeden Lebewesens und in allen Dingen, und deshalb gibt es trotz aller Uneinigkeit, allem Hass, trotz aller Gewalt, ein Minimum an Harmonie, die erlaubt, dass die Arbeit der Natur vollendet wird.
Diese Präsenz tritt im menschlichen Wesen sehr deutlich hervor, selbst auf einer sehr elementaren Stufe – sogar ein höchst scheußlicher Mensch, jemand, der den Eindruck macht der Inbegriff eines Teufels oder eines Monsters zu sein, hat etwas in seinem Innern, das eine Art unwiderstehlicher Kontrolle ausübt – selbst für die schlimmsten Menschen ist es unmöglich bestimmte Dinge zu tun. Wenn der Mensch diese Präsenz des spirituellen Lichtes nicht in sich hätte, und ausschließlich durch feindselige Kräfte kontrolliert würde, gäbe es nicht diese Unmöglichkeit, das Schlimmste zu tun.
Jedes Mal, wenn eine Welle dieser monströsen feindseligen Kräfte über die Erde hinwegfegt, scheint es, als ob nichts jemals den Aufruhr und den Horror davon abhalten kann sich auszubreiten, und doch greift jedes Mal unerwartet und unerklärlich eine Kontrolle ein, und die Welle der Zerstörung wird aufgehalten, und es kommt nicht zur totalen Katastrophe. Das geschieht wegen der Präsenz, der Anwesenheit des Höchsten in der Materie.
Jedoch nur in wenigen außergewöhnlichen Wesen, und nur nach einer langen, sehr langen Zeit der Vorbereitung, die sich über viele Leben erstreckt, verändert sich diese Präsenz im Menschen zu einem bewussten, unabhängigen, völlig selbst-organisierten Wesen, einem allmächtigen Meister seiner körperlichen Bleibe, der bewusst genug ist, um nicht nur seinen Körper zu kontrollieren, sondern auch das, was ihn umgibt, in einem Bereich von Ausstrahlung und Handlungskraft, der immer umfassender und effektiver wird. (100)
DIE MUTTER

Hat das psychische Wesen irgendeine Macht?
Macht? Es ist gewöhnlich das psychische Wesen, das den Menschen leitet. Man merkt nichts davon, weil es einem nicht bewusst ist, aber normalerweise ist es das psychische Wesen, das einen führt. Wenn man sehr aufmerksam ist, wird es einem bewusst. Aber die Mehrheit der Menschen hat nicht die leiseste Ahnung davon. Wenn sie sich zum Beispiel in ihrer äußeren Unwissenheit dazu entschlossen haben etwas Bestimmtes zu tun, und sie nicht in der Lage sind es durchzuführen, weil alle Umstände so organisiert sind, dass sie stattdessen etwas anderes machen müssen, fangen sie an zu schimpfen und dagegen anzustürmen, geraten in Wut gegen das Schicksal, und sagen, dass die Natur schlecht, oder ihr Schicksal unheilvoll sei, oder Gott ungerecht, oder was auch immer, (abhängig von dem was sie glauben). Dabei sind meist genau diese Umstände die zuwiderlaufen die günstigsten für ihre innere Entwicklung. Natürlich, wenn du dein psychisches Wesen darum bittest ein schönes Leben für dich einzurichten, wie, viel Geld zu verdienen und Kinder zu haben, die der Stolz der Familie sind usw. nun, dabei wird dir das psychische Wesen nicht helfen. Aber es wird für dich all die Umstände erschaffen, die notwendig sind, um etwas in dir zu erwecken, sodass das Bedürfnis nach Vereinigung mit dem Göttlichen in dir entstehen kann. Manchmal machst du schöne Pläne, und wenn sie Erfolg gehabt hätten, wärst du mehr und mehr in eine Kruste der äußeren Ignoranz eingeschlossen worden, in deinen dummen kleinen Ehrgeiz und in deine ziellose Aktivität. Wenn du jedoch einen heilsamen Schock erhältst, und du bekommst zum Beispiel nicht die Arbeitsstelle die du unbedingt haben wolltest, und die Pläne, die du gemacht hast, sind durchkreuzt worden, und du bist mit all deinen Absichten vollständig gescheitert, dann öffnet diese Opposition der Umstände und Ereignisse manchmal eine Tür für dich zu etwas Tieferem, Wahrerem. Wenn dir diese Dinge ein wenig bewusst werden, während du auf sie zurückblickst, und du nur im Mindesten aufrichtig bist, wirst du sagen: „Aha, ich hatte damals nicht Recht mit dem, was ich wollte, es war die Natur oder die göttliche Gnade oder mein psychisches Wesen die das alles richtig eingerichtet hatten.“ Es ist das psychische Wesen, das die Umstände so organisiert hatte. (101)
DIE MUTTER

Die Seele enthält alle mögliche Kraft in sich, aber das meiste davon wird hinter einer Art Schleier zurückgehalten, und das, was von dieser Kraft in die menschliche Natur nach außen dringt, macht für sie den Unterschied. In manchen Menschen ist das psychische Element stark, und in anderen schwach entwickelt, in manchen Menschen ist der Verstand der stärkste Teil, der bestimmend ist, in anderen ist es das vitale Gefühl, das leitet oder antreibt. Aber durch Sadhana kann das psychische Wesen mehr und mehr in den Vordergrund gebracht werden, bis es dominiert und die restlichen Teile der äußeren Natur bestimmt. Wenn es diese schon leiten würde, wären Kämpfe des Gefühls und Schwierigkeiten die der Verstand verursacht überhaupt nicht ernst, denn jeder Mensch würde im Licht das das Psychische darauf wirft die Wahrheit erkennen und ihr mehr und mehr folgen. (102)
SRI AUROBINDO

Es erscheint mir unmöglich dieser Notwendigkeit zu entkommen (sein Wesen um die zentrale innere Präsenz des Göttlichen zu organisieren), wenn man ein bewusstes Instrument der göttlichen Kraft sein möchte. Ihr könnt als unbewusste Werkzeuge von der göttlichen Kraft zu bestimmten Dingen bewegt oder zum Handeln gedrängt werden, wenn ihr ein Minimum an Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit zeigt. Aber um zu einem bewussten Instrument zu werden das zur inneren Identifikation mit dem Göttlichen und zu bewussten, gewollten Ausführungen fähig ist, benötigt ihr diese innere Organisation; sonst rennt ihr immer irgendwo in ein Chaos, irgendwo in eine Verwirrung oder eine Verschwommenheit oder in eine Unbewusstheit. Obwohl euer Handeln dann ausschließlich dem Göttlichen gewidmet ist, wird es natürlich nicht die Perfektion des Ausdrucks haben die es hat, wenn man eine bewusste Organisation um das innere göttliche Zentrum herum erlangt hat.
Es ist eine Aufgabe die Beharrlichkeit erfordert, die zu jeder Zeit unter allen Umständen durchgeführt werden kann, weil alle Bestandteile zur Lösung dieser Aufgabe in dir selbst vorhanden sind. Du brauchst für diese Arbeit keine Hilfe, die von außen kommt. Sie erfordert jedoch große Ausdauer, eine Art Hartnäckigkeit, denn sehr häufig befinden sich unangenehme Deformierungen im Charakter, Angewohnheiten, die alle nur möglichen Ursachen haben können, diese können in Rückschlägen in der Entwicklung liegen, oder in zurückliegenden charakterlichen Missbildungen, oder in der Erziehung oder in dem Milieu in dem du gelebt hast, sowie in vielen anderen Ursachen. Du versuchst diese Missbildungen wie Falten zu glätten, aber sie kräuseln sich immer wieder. Dann musst du die Arbeit wieder von vorne beginnen, oft viele Male ohne entmutigt zu werden, bevor das endgültige Ergebnis sich zeigt. Aber nichts und niemand und kein Umstand kann dich davon abhalten. Denn du trägst in dir selbst das Problem und die Lösung. (103)
DIE MUTTER
