Kapitel 2
Wahre Aspiration
Worte Sri Aurobindos
Für den raschen Erfolg, die Weite, Intensität und Macht ihrer Ergebnisse wird die Entfaltung der Erfahrung zunächst – am Anfang des Weges und noch lange danach – von der Aspiration und dem persönlichen Bemühen des Sadhak bestimmt. Der Prozess des Yoga besteht darin, dass sich die menschliche Seele vom egoistischen Zustand des Bewusstseins, das von den äußeren Erscheinungen und der Anziehungskraft der Dinge gefangengenommen wird, loslöst und einem höheren Zustand zukehrt, wo dann das Transzendente und Universale sich selbst in die individuelle Gestaltung ergießen und sie umformen kann. Das erste bestimmende Element der Siddhi ist darum die Intensität der Umkehrung, also die Kraft, welche die Seele nach innen lenkt. Der Maßstab für diese Intensität sind die Macht der Aspiration des Herzens, die Kraft des Willens, die Konzentration des Mentals sowie die Ausdauer und Entschlossenheit der eingesetzten Energie. Der ideale Sadhak sollte mit dem Bibelwort sagen können: „Mein Eifer für den Herrn hat mich verzehrt.“ Dieser Eifer für den Herrn, utsaha, das eifrige Ringen der ganzen Natur, um zu ihrer göttlichen Vervollkommnung, vyakulata, zu kommen, und die unablässige Sehnsucht des Herzens, das Göttliche zu erreichen – das verzehrt das Ego und zerbricht die Begrenzungen seiner kleinlich engen Form für das volle und weite Empfangen dessen, was es sucht, das – da es universal ist – selbst über das umfassendste und höchste individuelle Selbst und dessen Natur hinausgeht und – da es selbst transzendent ist – sie hinter sich zurücklässt.

Worte Sri Aurobindos
Auf welchem Wege der Ruf auch kommt, das Mental und der Wille müssen sich entscheiden. Als Ergebnis davon muss eine völlige und effektive Selbstdarbringung geleistet werden. Die Annahme einer neuen spirituellen Ideenkraft und die Orientierung unseres Wesens nach oben hin, eine Erleuchtung, eine Hinwendung oder Umkehr, die man mit dem Willen und mit der Aspiration des Herzens festhält, – das ist der entscheidende Akt, der wie in einem Samenkorn alle Resultate, die der Yoga zu geben hat, in sich trägt. Die bloße Idee oder ein intellektuelles Suchen nach etwas Höherem, Jenseitigem ist – so stark das auch mit dem Interesse des Mentals ergriffen wird – doch unwirksam, wenn das Herz es nicht als das festhält, was allein begehrenswert ist, und wenn der Wille dieses Einzige nicht als das annimmt, was getan werden muss. Denn die Wahrheit des Geistes soll nicht bloß gedacht, sondern muss gelebt werden, und sie zu leben erfordert aber die auf ein einziges Ziel hin zur Einheit zusammengefasste Konzentration unseres mentalen Wesens. Eine so große Umwandlung, wie sie durch den Yoga vorgesehen ist, kann nicht durch einen zerteilten Willen oder durch einen kleinen Teil der Energie oder durch ein zögerndes Mental bewirkt werden. Wer das Göttliche sucht, muss sich Gott weihen und nur Gott allein.

Worte Sri Aurobindos
Was du sagst, ist absolut richtig. Ein einfacher, gerader und aufrichtiger Ruf aus dem Herzen und eine ebensolche Aspiration sind das einzig Wichtige und wesentlicher und wirksamer als alle Fähigkeiten. Von großer Wichtigkeit ist es auch, das Bewusstsein dahin zu bringen, sich nach innen zu wenden und nicht nach außen gewandt zu bleiben – sich dem inneren Ruf, der inneren Erfahrung, der inneren Gegenwart zu öffnen.
Die Hilfe, die du erbittest, wird dir gewährt werden. Lass die Aspiration immer stärker werden und öffne das innere Bewusstsein insgesamt.

Worte Sri Aurobindos
Es ist das Seelische, das die wahre Aspiration gibt – ist das Vital geläutert und dem Seelischen unterworfen, gibt das Vital Intensität –, doch ist es nicht geläutert, wenn die Intensität rajasisch ist, voller Ungeduld und den Reaktionen von Depression und Enttäuschung ausgesetzt. Ruhe und Gleichmut, die benötigt werden, müssen von oben durch das Mental kommen.

Worte Sri Aurobindos
Kein Zweifel, die Schwierigkeit liegt in der Einmischung des Begehrens bei allem, was du tust, sogar bei deiner Bemühung in der Sadhana. Das Begehren bringt eine Bewegung ungeduldiger Anstrengung mit sich sowie eine Reaktion aus Enttäuschung und Aufbegehren und andere verwirrende und störende Gefühle, sobald eine Schwierigkeit gefühlt wird und das Resultat nicht unmittelbar eintritt. Aspiration sollte nicht die Form von Begehren annehmen, es sollte vielmehr das Erfordernis der inneren Seele sein, ein ruhiger, gefestigter Wille, sich dem Göttlichen zuzuwenden und das Göttliche zu suchen. Es ist bestimmt nicht einfach, sich von dieser Beimengung des Begehrens gänzlich zu befreien – es ist für niemanden einfach. Doch wenn man den Willen hat, kann auch dies durch die helfende Kraft erreicht werden.

Worte der Mutter
Das ist sehr von der Stärke der inneren Aspiration abhängig. Wenn du dich in einem Zustand bewusster Aspiration befindest und sehr aufrichtig bist, wird sich alles um dich herum so anordnen, dass es dir in deiner Aspiration hilft, direkt oder indirekt – um dich also einen Fortschritt machen zu lassen und dich mit etwas Neuem in Verbindung zu bringen oder um in deiner Natur etwas zu eliminieren, was verschwinden soll. Das ist etwas sehr Bedeutsames. Wenn du wirklich in einem Zustand intensiver Aspiration bist, gibt es keinen Umstand, der dir nicht helfen würde, diese Aspiration zu verwirklichen. Alles kommt, alles, als ob ein vollkommenes und absolutes Bewusstsein alles um dich herum organisierte. Du selbst, in deiner äußeren Unwissenheit, magst es nicht erkennen und protestierst zunächst gegen die Umstände, wie sie sich dir darstellen. Du magst dich beklagen und versuchst, sie zu ändern, doch nach einiger Zeit – wenn du weiser geworden bist und Abstand zu dem Ereignis gewonnen hast – wird dir klar, dass es gerade das war, was du tun musstest, um den notwendigen Fortschritt zu machen. Und, weißt du, es ist ein Wille, ein höchster guter Wille, der alles um dich herum anordnet. Und selbst wenn du dich beklagst und protestierst, statt zu akzeptieren, ist es gerade in solchen Momenten, dass er am wirksamsten handelt.

Worte der Mutter
Was ist der Unterschied zwischen Aspiration und Verlangen?
Wenn du beides erfahren hast, kannst du sie leicht unterscheiden. Es gibt in der Aspiration etwas, das ich eine selbstlose Flamme nennen möchte, die im Begehren fehlt. Deine Aspiration ist nicht auf dich selbst bezogen – Begehren ist stets ichbezogen. Rein psychologisch gesehen ist Aspiration ein Sich-selbst-Geben, immer, während Begehren stets ein An-sich-Ziehen ist. Aspiration ist etwas, das sich gibt, nicht unbedingt in Form eines Gedankens, aber in der Regung, in der Schwingung, im vitalen Impuls.
Wahre Aspiration entspringt nicht dem Kopf. Auch wenn sie sich als Gedanke formuliert, springt sie wie eine Flamme aus dem Herzen hervor. Ich weiß nicht, ob du die Artikel gelesen hast, die Sri Aurobindo über die Veden geschrieben hat. Irgendwo erklärt er, dass jene Hymnen nicht mit dem Verstand geschrieben worden sind. Sie waren keine Gebete, wie man annimmt, sondern der Ausdruck einer Aspiration, die ein Impuls war wie eine aus dem Herzen steigende Flamme (gemeint ist nicht eigentlich das „Herz“, sondern das seelische Zentrum des Wesens, um die genauen Worte zu benutzen). Sie waren nicht „erdacht“, die Erfahrung wurde nicht in Worte gekleidet, die Erfahrung kam vollständig formuliert mit den genauen, exakten, unvermeidlichen Worten – sie ließen sich nicht ändern. Das ist die Eigenart der Aspiration: Du versuchst nicht zu formulieren, sie bricht wie eine vollkommen bereite Flamme aus dir hervor. Und wenn da Worte sind (manchmal sind da keine), lassen sie sich nicht ändern: Du kannst nicht ein Wort durch ein anderes ersetzen, jedes ist genau das richtige. Formuliert sich die Aspiration, so tut sie es endgültig, unbedingt, ohne jede Möglichkeit einer Änderung. Und immer ist sie etwas, das emporstrebt und sich gibt, während es die Eigenart des Begehrens ist, an sich zu ziehen.
Der wesentliche Unterschied zwischen der Liebe in der Aspiration und der Liebe im Begehren ist, dass die Liebe in der Aspiration sich ganz gibt und nichts dafür verlangt – sie fordert nichts, während die Liebe im Begehren so wenig wie möglich gibt und so viel wie möglich verlangt – sie zieht an sich und fordert immer.
Aspiration bringt immer Freude, nicht wahr?
Eher ein Gefühl der Fülle – „Freude“ ist ein Wort, das irreführen kann –, ein Gefühl der Fülle, der Kraft, der inneren Flamme, die dich erfüllt. Aspiration kann dir Freude geben, aber eine ganz besondere Freude, die keinerlei Erregung in sich trägt.
