Kapitel 2
Vernimm die Stimme eines Freundes
Du, der du müde und geschwächt und niedergeschlagen bist, du, der fällt und sich vielleicht für besiegt hält, vernimm die Stimme eines Freundes. Er kennt deine Sorgen, er hat sie geteilt, er hat wie du an den Übeln der Erde gelitten; wie du hat er unter der Last des Tages Wüsten durchquert, Hunger und Durst, Einsamkeit und Verlassenheit gekannt und – am grausamsten von allem – die bittere Entbehrung des Herzens. Ach, auch Stunden des Zweifels hat er gekannt, hat Irrtümer, Fehler, Versagen und alle Schwächen erfahren.
Aber er sagt dir: Mut! Vernimm die Lehre, die die aufgehende Sonne mit ihren ersten Strahlen allmorgendlich der Erde bringt. Es ist eine Lehre der Hoffnung, eine Botschaft des Trostes.
Du, der weint, der leidet, zittert und nicht wagt, das Ende deines Elends, das Nachlassen deiner Schmerzen abzusehen, merke auf: Es gibt keine Nacht ohne Tagesanbruch, und wenn die Finsternis am dichtesten ist, steht die Morgendämmerung bevor; keinen Nebel gibt es, den die Sonne nicht vertreibt, keine Wolke, die sie nicht vergoldet, keine Tränen, die sie nicht eines Tages trocknet, keinen Sturm, nach dem nicht ihr Triumphbogen leuchtet, keinen Schnee, den sie nicht schmilzt, keinen Winter, den sie nicht in strahlenden Frühling verwandelt.
Und auch für dich gibt es keinen Kummer, der nicht sein Maß an Glück hervorbringt, keine Niedergeschlagenheit, die sich nicht in Freude verwandeln mag, keine Niederlage, die nicht in einen Sieg, keinen Untergang, der nicht in einen Aufstieg zu größeren Höhen sich wenden lässt, keine Einsamkeit, die nicht zu einem leuchtenden Zentrum des Lebens werden kann, keinen Missklang, der nicht in Harmonie aufzulösen ist – manchmal ist es ein Missverständnis zweier Köpfe, das zwei Herzen dazu zwingt, sich einander in tiefer Übereinstimmung zu öffnen; kurz: Keine Schwäche ist so grenzenlos, dass sie sich nicht in Kraft umsetzen könnte. Ja, der Allmacht gefällt es sogar, sich in der allergrößten Schwachheit zu offenbaren!
Höre, mein kleines Kind, das du dir so gebrochen, so gefallen vorkommst und nichts, gar nichts mehr hast, um dein Elend zu verdecken und deinen Stolz zu nähren – niemals zuvor bist du so groß gewesen! Wie nahe ist derjenige den Gipfeln, der in den Tiefen erwacht, denn je tiefer der Abgrund, desto mehr enthüllen sich auch die Höhen!
Weißt du nicht, dass die erhabensten Kräfte der kosmischen Weiten sich die undurchsichtigsten Schleier der Materie zur Kleidung suchen? O glänzende Hochzeit der höchsten Liebe mit ihren dunkelsten Formbarkeiten, des Schattens Sehnsucht mit dem königlichsten Licht!
Haben Feuerproben oder Fehler dich niedergeworfen, bist du in die tiefsten Tiefen des Leidens gesunken, so sei nicht bekümmert – denn da werden dich die göttliche Liebe und die höchste Segnung erreichen! Weil du durch einen Schmelztiegel läuternder Leiden gegangen bist, erwarten dich die glorreichen Aufstiege.
Du bist in der Wüste: Wohlan, lausche den Stimmen des Schweigens. Der Klang schmeichelnder Worte und äußeren Beifalls hat dein Ohr erfreut, aber die Stimmen des Schweigens werden deine Seele beglücken und in dir den Widerhall der Tiefen wecken, den Gesang der göttlichen Harmonien!
Du wanderst in tiefer Nacht: Wohlan, sammle da die unermesslichen Schätze der Finsternis. Sonnenschein erhellt die Wege des Verstandes, aber in der Nacht mit ihren weißen Heiligkeiten liegen die verborgenen Pfade der Vollendung, das Geheimnis spirituellen Reichtums.
Dir ist alles weggenommen worden: Das ist der Weg, der zur Fülle führt. Wenn dir nichts mehr bleibt, wird dir alles gegeben. Denn wer aufrichtig und gerade ist, dem erwächst aus dem Schlimmsten immer das Beste.
Jedes in die Erde gepflanzte Korn bringt tausend hervor. Jeder Flügelschlag des Leides kann ein Aufschwung zur Herrlichkeit sein.
Und wenn der Widersacher gegen den Menschen wütet, macht alles, was dieser zu dessen Vernichtung unternimmt, ihn nur größer.
Vernimm die Geschichte der Welten, sieh, wie der große Feind zu triumphieren scheint! Er wirft die Geschöpfe des Lichts in die Nacht, und die Nacht füllt sich mit Sternen. Er tobt mit wachsender Wut gegen das kosmische Werk, greift die Unversehrtheit des Reiches der Ursphäre an, erschüttert seine Harmonie, teilt und unterteilt es, streut seinen Staub in die vier Winde der Unendlichkeit, und siehe da, der Staub verwandelt sich in eine goldene Saat, die das Unendliche befruchtet und es mit Welten bevölkert, die von nun an ihren ewigen Mittelpunkt in größeren Bahnen des Raumes umkreisen werden. Selbst Teilung bringt nun eine reichere und tiefere Einheit hervor, die das Reich erweitert, indem sie die Oberflächen des stofflichen Universums vervielfacht, das sie zerstören wollte.
Schön, ohne Zweifel, war der Gesang der ursprünglichen Sphäre, im Schoß der Unermesslichkeit gewiegt. Aber wie viel schöner und triumphaler ist die Sinfonie der Konstellationen, die Musik der Sphären, der unermessliche Choral, der die Himmel mit ewiger Siegeshymne erfüllt!
Höre weiter: Kein Zustand war je bedenklicher als der des Menschen, als er auf Erden von seinem göttlichen Ursprung getrennt war. Über ihm erstreckte sich die feindliche Front des Usurpators, und an den Pforten seines Horizonts wachten Kerkermeister, bewaffnet mit flammenden Schwertern. Weil er nicht mehr zur Quelle des Lebens emporsteigen konnte, sprang die Quelle in seinem Inneren auf; weil er nicht mehr das Licht von oben empfangen konnte, leuchtete das Licht im Kern seines Wesens auf; weil er nicht mehr mit der jenseitigen Liebe Gemeinschaft haben konnte, brachte die Liebe sich selbst zum Opfer und erkor jedes irdische Wesen, jedes menschliche Selbst zu ihrer Wohnstätte und ihrem Heiligtum.
In dieser verachteten und dennoch fruchtbaren, elenden und dennoch gesegneten Materie beherbergt daher jedes Atom einen göttlichen Gedanken, trägt jedes Wesen in sich den Göttlichen Bewohner. Und ist auch im ganzen Weltall nichts so zerbrechlich wie der Mensch, so ist gleichermaßen nichts so göttlich wie er!
Wahrlich, wahrlich, in der Demütigung liegt die Wiege der Herrlichkeit!
