Kapitel 2

Einfluss und Tätigkeit der Seele

Zu Beginn ist die Seele in der [menschlichen] Natur – die seelische Wesenheit, deren Entfaltung der erste Schritt auf eine spirituelle Wandlung hin ist – ein gänzlich verhüllter Teil von uns, obwohl sie es ist, durch die wir existieren und als individuelle Wesen in der Natur ausharren. Die anderen Teile unseres natürlichen Aufbaus sind nicht nur veränderlich, sondern vergänglich; doch die seelische Wesenheit in uns dauert fort, und ist grundlegend immer die gleiche: sie enthält alle wesentlichen Möglichkeiten unserer Manifestation, wird aber durch sie nicht geformt; sie ist durch das, was sie manifestiert, weder begrenzt noch durch die unvollkommenen Formen der Verkörperung eingedämmt, sie wird auch nicht befleckt durch die Mängel und Unreinheiten, die Fehler und Verderbtheiten des Oberflächen-Wesens. Sie ist eine immerdar reine Flamme der Gottheit in den Dingen, und nichts, das an sie herantritt, kann ihre Reinheit besudeln oder die Flamme löschen. Diese spirituelle Substanz ist makellos und leuchtend und, da sie in vollendeter Weise leuchtend ist, ist sie sich unmittelbar, engstens und direkt der Wahrheit des Wesens und der Wahrheit der Natur bewusst; sie ist sich des Wahren und des Guten und des Schönen zutiefst bewusst, da das Wahre und Gute und Schöne ihrem eigenen ursprünglichen Charakter verwandt sind, Formen von etwas, das ihrer eigenen Substanz innewohnt. Sie nimmt auch alles wahr, was diesen Dingen widerspricht, alles was von ihrem eigenen eingeborenen Wesen abweicht: die Falschheit und das Übel und das Hässliche und das Unziemliche; doch weder wird sie zu diesen Dingen, noch wird sie von diesen Gegensätzen ihrer selbst, die so machtvoll ihre äußere Instrumentation von Mental, Leben und Körper beeinträchtigen, berührt oder verändert. Denn die Seele, das bleibende Wesen in uns, stellt Mental, Leben und Körper als ihre Instrumente in den Vordergrund, sie benützend und die Umhüllung ihrer Beschaffenheit duldend; sie selbst jedoch ist anders und größer als ihre Teile.

Wäre die seelische Wesenheit von Anfang an unverhüllt gewesen, von ihren Dienern erkannt, kein einsamer König in abgeschirmtem Gemach, dann hätte die menschliche Evolution aus einem raschen Erblühen der Seele bestanden, und nicht aus der schwierigen, wechselvollen und entstellten Entwicklung, die sie jetzt ist; doch ist die Umhüllung dicht, und wir kennen das geheime Licht in uns nicht, das Licht der verborgenen Krypta in des Herzens innerstem Heiligtum. Hinweise steigen von der Seele zu unserer Oberfläche empor, doch unser Mental entdeckt ihren Ursprung nicht; es sieht sie als seine eigenen Aktivitäten an, da sie, bevor sie zur Oberfläche gelangen, in mentale Substanz gekleidet sind; daher, ihre Herkunft nicht kennend, folgt es ihnen oder folgt ihnen nicht, seiner augenblicklichen Neigung oder Denkweise entsprechend. Wenn das Mental dem Drängen des vitalen Egos folgt, hat die Seele nur geringe Chance die Natur zu kontrollieren oder etwas in uns von ihrer geheimen spirituellen Substanz oder eingeborenen Bewegung zu manifestieren; oder, wenn das Mental übermäßig davon überzeugt ist, gemäß seinem eigenen kleineren Licht zu handeln, verhaftet dem eigenen Urteil, Willen und Wissen, auch dann wird die Seele verhüllt und still bleiben und auf die weitere Evolution des Mentals warten. Denn der seelische Teil im Inneren hat die Aufgabe, die natürliche Evolution zu stützen, und die erste natürliche Evolution muss die Entwicklung von Körper, Leben und Mental sein, in dieser Reihenfolge, und jedes von ihnen muss auf seine Weise handeln, oder alle zusammen in ihrer schlecht gemischten Partnerschaft, damit sie wachsen und Erfahrungen sammeln und sich entwickeln. Die Seele häuft die Essenz all unserer mentalen, vitalen und körperlichen Erfahrung an und assimiliert sie zur weiteren Evolution unseres Daseins in der Natur; doch ist diese Tätigkeit verborgen, und nicht der Oberfläche aufgenötigt: Tatsächlich gibt es in den frühen, stofflichen und vitalen Stadien der Evolution des Wesens kein Seelenbewusstsein; es gibt seelische Aktivitäten, doch die Instrumentation, die Form dieser Aktivitäten ist vital und physisch – oder mental, wenn das Mental bereits aktiv ist. Denn selbst das Mental, solange es primitiv ist, oder selbst wenn es entwickelt ist, doch noch zu äußerlich, erkennt ihren tieferen Charakter nicht. Es ist einfach, sich als physisches Wesen zu betrachten, oder als ein Wesen der Lebenssphäre oder als mentales Wesen, welches das Leben und den Körper benützt, und dabei das Dasein der Seele insgesamt zu ignorieren: denn die einzige bestimmte Vorstellung, die wir von der Seele haben, besteht darin, dass etwas den Tod unseres Körpers überlebt; doch was das ist, wissen wir nicht, denn selbst wenn wir uns manchmal ihrer Gegenwart bewusst sind, wissen wir normalerweise weder etwas von ihrer deutlichen Realität, noch fühlen wir klar ihre unmittelbare Tätigkeit in unserer Natur.

In dem Maße wie die Evolution fortschreitet, beginnt die Natur langsam und tastend unsere geheimen Teile zu manifestieren; sie führt uns dahin, mehr und mehr nach Innen zu sehen, oder beginnt deutlicher erkennbare Hinweise und ihre Formungen an der Oberfläche einzuführen. Die Seele in uns, das seelische Prinzip, hat bereits begonnen, geheime Form anzunehmen; sie stellt eine Seelenpersonalität, ein deutliches seelisches Wesen in den Vordergrund, um sie zu repräsentieren. Dieses seelische Wesen bleibt noch hinter dem Schleier in unserem subliminalen Teil, dem wahren Mental, dem wahren Vital oder dem wahren oder feinstofflichen Wesen in uns: doch wie diese, wirkt es auf das Oberflächenleben durch Einflüsse und Mitteilungen, die es zur Oberfläche sendet; diese bilden einen Teil des Oberflächenaggregates, bestehend aus der angehäuften Wirkung der inneren Einflüsse und Aufwallungen, und aus der sichtbaren Form und dem Überbau, den wir im Allgemeinen als uns selbst erfahren und betrachten. An dieser unwissenden Oberfläche nehmen wir undeutlich etwas wahr, das eine Seele genannt werden kann, deutlich verschieden von Mental, Leben oder Körper; wir fühlen sie nicht nur als mentale Idee oder vagen Instinkt unserer selbst, sondern als wahrnehmbaren Einfluss auf unser Leben, unseren Charakter und unsere Tätigkeit. Ein gewisses feines Gefühl für alles, das wahr und gut und schön ist, subtil und rein und edel, eine Reaktion darauf, ein Verlangen danach, ein Druck auf Mental und Leben, es in unserem Denken, Fühlen, Verhalten, Charakter zu akzeptieren und auszudrücken, ist das am meisten vorkommende, allgemeinste und typischste, obwohl nicht das einzige Zeichen dieses Einflusses der Seele. Von dem Menschen, der dieses Element nicht in sich hat oder diesem Drängen gegenüber gänzlich taub ist, wird gesagt, er habe keine Seele. Denn es ist dieser Einfluss, den wir am leichtesten als einen edleren oder sogar göttlicheren Teil in uns erkennen, der mächtigste, der uns langsam zu einem Streben nach Vollkommenheit in unserer Natur hinführt.

Doch dieser seelische Einfluss, diese seelische Tätigkeit kommt nicht ganz rein zur Oberfläche, oder bleibt nicht klar erkennbar in ihrer Reinheit; wenn es nicht so wäre, könnten wir deutlich das Seelenelement in uns unterscheiden, und bewusst und voll seinen Befehlen folgen. Eine okkult mentale, vitale und subtil physische Tätigkeit greift ein, vermischt sich damit, [mit dem Einfluss der Seele] und versucht ihn zu ihrem eigenen Nutzen zu gebrauchen und zu wenden; sie vermindert seine Göttlichkeit, entstellt und verringert seinen Selbstausdruck, bewirkt sogar seine Ablenkung und sein Straucheln oder befleckt ihn mit der Unreinheit, Kleinlichkeit und dem Irren des Mentals, Lebens und Körpers. Wenn er, [der Einfluss der Seele] derart beeinträchtigt und vermindert, die Oberfläche erreicht, wird er von der Oberflächennatur in dunklem Empfang und unwissender Formierung ergriffen, was eine weitere Ursache für Ablenkung und Vermischung ist oder sein kann. Eine Wende findet statt, eine falsche Richtung wird auferlegt, eine falsche Anwendung, eine falsche Formierung, woraus ein fehlerhaftes Ergebnis dessen resultiert, was an sich reine Substanz und Tätigkeit unseres spirituellen Wesens ist; dementsprechend entsteht eine Bewusstseinsformierung, die eine Vermischung des seelischen Einflusses und seiner Hinweise mit mentalen Ideen und Meinungen, mit vitalem Begehren und Drängen und gewohnheitsmäßigen physischen Neigungen darstellt. Mit dem verdunkelten Seeleneinfluss verschmelzen auch die unwissenden, obgleich wohlgemeinten Bemühungen dieser äußeren Teile, eine höhere Richtung einzuschlagen; eine mentale Ideenbildung von sehr vermischtem Charakter, oft dunkel, selbst in ihrem Idealismus, manchmal sogar verhängnisvoll irrend, eine Glut und Leidenschaft des emotionellen Wesens, das sein Sprühen und Schäumen der Gefühle, Empfindungen und Sentimentalitäten emporsendet, ein dynamischer Enthusiasmus der Lebensteile, heftige Reaktionen des Physischen, die Schauer und Aufregungen von Nerv und Körper – all diese Einflüsse verschmelzen in vielfältiger Form, die häufig für die Seele angesehen werden; und ihre vermischte und verworrene Tätigkeit wird für eine Seelenregung gehalten, für eine seelische Entwicklung und Tätigkeit oder einen klar erkannten inneren Einfluss. Die seelische Wesenheit selbst ist frei von Befleckung oder Vermischung, doch was aus ihr emporsteigt, wird von dieser Immunität nicht geschützt; daher ist dieses Durcheinander möglich.

Außerdem taucht das seelische Wesen, die Seelenpersonalität in uns, nicht ausgewachsen und leuchtend auf; sie entfaltet sich, durchläuft eine langsame Entwicklung und Formierung; ihre Seinsgestalt mag zunächst undeutlich, und danach auf lange Zeit hin schwach und unentwickelt bleiben, nicht unrein, doch unvollständig: denn sie stützt sich in ihrer Formung, ihrer dynamischen Selbstgestaltung auf die Macht der Seele, die tatsächlich und mehr oder weniger erfolgreich in der Evolution gegen den Widerstand von Unwissenheit und Unbewusstheit an die Oberfläche herausgestellt wurde. Ihr Erscheinen ist das Zeichen eines Auftauchens der Seele in der Natur, und wenn dieses Auftauchen noch klein und fehlerhaft ist, dann ist auch die Seelenpersonalität verkümmert oder schwach. Sie ist auch durch die Dunkelheit unseres Bewusstseins von ihrer inneren Wirklichkeit getrennt, in unvollständiger Verbindung mit ihrem eigentlichen Ursprung in den Tiefen des Wesens; denn der Pfad ist noch schlecht gebaut und wird leicht blockiert, die Drähte sind häufig durchschnitten oder mit Kommunikationen anderer Art überladen, die aus einer anderen Quelle stammen: ihre Fähigkeit, das, was sie empfängt, den äußeren Instrumenten aufzuprägen, ist ebenfalls beschränkt; in ihrer Not muss sie sich für die meisten Dinge auf diese äußeren Instrumente verlassen, und sie formt ihren Drang nach Ausdruck und Tätigkeit nach deren Daten, und nicht ausschließlich nach den untrüglichen Wahrnehmungen der seelischen Wesenheit. Unter diesen Bedingungen kann sie nicht verhindern, dass das wahre seelische Licht im Mental zu einer bloßen Idee oder Meinung vermindert und entstellt wird, das seelische Gefühl im Herzen zu einer fehlbaren Emotion oder in bloßes Sentiment, der seelische Wille nach Tätigkeit in den Lebensteilen in blinden, vitalen Enthusiasmus oder eine fieberhafte Erregung: sie akzeptiert sogar diese Fehldeutungen in Ermanglung von etwas Besserem und versucht sich durch sie zu erfüllen. Denn es gehört zur Arbeit der Seele, Mental, Herz und Vital zu beeinflussen, und ihre Ideen und Gefühle, ihre Begeisterung, ihren Dynamismus in die Richtung dessen zu wenden, was göttlich und leuchtend ist; doch muss das zunächst unvollkommen, langsam und mit einer Beimengung geschehen. In dem Maße wie die seelische Personalität an Stärke gewinnt, wird ihre Verschmelzung mit der seelischen Wesenheit dahinter größer und ihre Verbindung mit der Oberfläche besser: sie kann ihre Hinweise an Mental, Herz und Leben mit größerer Reinheit und Kraft übermitteln; denn sie vermag nun eine stärkere Kontrolle auszuüben und gegen falsche Beimengungen zu reagieren; mehr und mehr wird sie jetzt deutlich als eine Macht in der [menschlichen] Natur gefühlt. Doch selbst auf diese Weise wäre diese Evolution, bliebe sie allein der schwerfälligen, automatischen Tätigkeit der evolutionären Energie überlassen, langsam und langwierig; erst wenn der Mensch zur Erkenntnis der Seele erwacht und das Bedürfnis spürt, sie nach vorne zu bringen, und sie zum Meister seines Lebens und seiner Tätigkeit zu machen, tritt eine schnellere, bewusstere Methode der Evolution in Kraft und eine seelische Umwandlung wird möglich.

SRI AUROBINDO (19:891)

Wie beeinflusst die Seele ein Wesen, das normalerweise nicht bewusst ist?

Der Einfluss der Seele gleicht einer Art Ausstrahlung, welche die undurchlässigsten Substanzen durchdringt, und selbst im Unbewussten wirkt.

Dann aber ist seine Tätigkeit langsam, und es dauert sehr lange, ein wahrnehmbares Ergebnis zu erzielen.

DIE MUTTER (16:249)

Im gewöhnlichen Bewusstsein, in welchem das Mental und das übrige nicht wach sind, wirkt die Seele so gut sie kann durch diese, doch gemäß den Gesetzen der Unwissenheit.

SRI AUROBINDO (22:297)

Das seelische Wesen ist in allen vorhanden, doch in sehr wenigen ist es gut entwickelt, gut aufgebaut im Bewusstsein oder deutlich im Vordergrund; in den meisten ist es verhüllt, oft nicht wirksam oder nur ein Einfluss, der nicht bewusst genug oder stark genug ist, um das spirituelle Leben zu stützen.

SRI AUROBINDO (25:220)

Was du beschreibst, ist das seelische Feuer, agni pavaka, das im tiefsten Herzen brennt, und von dort im Mental, im Vital und im physischen Körper entfacht wird. Im Mental schafft Agni ein Licht intuitiver Wahrnehmung und Unterscheidung, das sofort sieht, was die wahre Vision oder Idee, und was die falsche Vision oder Idee ist, das wahre Gefühl und das falsche Gefühl, die wahre Regung und die falsche Regung. Im Vital wird es [das seelische Feuer] als ein Feuer des richtigen Gefühls entfacht, einer Art intuitivem Gefühl, einer Art Feingefühl, sich dem rechten Impuls zuzuwenden, dem rechten Tun, dem rechten Erspüren der Dinge, der rechten Reaktion auf die Dinge. Im Körper ruft es eine ähnliche, doch noch automatischere, richtige Erwiderung auf die Dinge des physischen Lebens, Fühlens und der Körpererfahrung hervor. Meist ist es das seelische Licht im Mental, das von den Dreien zuerst entzündet wird, doch nicht immer –, denn manchmal ist es die seelisch-vitale Flamme, die den Vorrang einnimmt.

Auch im gewöhnlichen Leben wirkt zweifellos eine Seelentätigkeit – ohne sie wäre der Mensch nur ein denkendes und planendes Tier. Doch ist sie sehr verhüllt und bedarf stets des Mentals oder Vitals für ihren Ausdruck, sie ist meist vermischt und nicht dominierend, und daher nicht unfehlbar; sie tut oft das Rechte auf die falsche Weise, wird vom richtigen Gefühl bewegt, doch irrt hinsichtlich der Anwendung, der Person, des Ortes und des Umstands. Die Seele, außer in wenigen außergewöhnlichen Naturen, erhält nicht ihre volle Gelegenheit im äußeren Bewusstsein; sie bedarf einer Art Yoga oder Sadhana, um zur Geltung zu kommen, und in dem Maß wie sie mehr und mehr im Vordergrund auftaucht, befreit sie sich von dem Gemisch. Das bedeutet, dass ihre Gegenwart direkt gefühlt wird, und nicht allein im Hintergrund oder als Stütze, sondern das frontale Bewusstsein ausfüllend, und nicht länger abhängig von ihren Instrumenten, Mental, Vital und Körper, oder durch sie beherrscht, sondern sie dominierend und ins Lichthafte wendend und sie ihre wahre Tätigkeit lehrend.

SRI AUROBINDO (9:362)