Kapitel 2
Eine Botschaft an den Westen
Worte Sri Aurobindos
Ich bin gebeten worden, anlässlich des 15. August eine Botschaft an den Westen zu schicken, aber was ich zu sagen habe, könnte in gleicher Weise als Botschaft an den Osten herausgegeben werden. Es ist Brauch, die Teilung und Unterschiedlichkeit dieser beiden Gruppen der Menschen-Familie zu erörtern und sie sogar einander gegenüberzustellen; aber ich selbst würde eher dazu neigen, Einheit und Einigkeit zu erörtern als Teilung und Unterschiedlichkeit. Ost und West haben dieselbe menschliche Natur, eine gemeinsame menschliche Bestimmung, dieselbe Sehnsucht nach mehr Vollkommenheit, dasselbe Suchen nach etwas Höherem als sie selbst, etwas, auf das wir uns innerlich und auch äußerlich hinbewegen. Bei einigen Gemütern besteht die Tendenz, sich bei der Spiritualität oder Mystik des Ostens und bei dem Materialismus des Westens aufzuhalten. Aber der Westen hatte nicht weniger als der Osten sein spirituelles Suchen und, wenn auch nicht in so reichem Maß, seine Heiligen, Weisen und Mystiker. Der Osten hatte umgekehrt seine materialistischen Tendenzen, seinen materiellen Glanz, ähnlichen oder identischen Umgang mit Leben, Materie und Welt, in der wir leben. Ost und West sind sich stets begegnet und haben sich mehr oder minder eng vermischt, sie haben einander stark beeinflusst und stehen gegenwärtig unter dem zunehmenden Druck von Natur und Schicksal, dies mehr zu tun als je zuvor.
Es besteht eine gemeinsame Hoffnung, eine gemeinsame Bestimmung, sowohl spirituell als auch materiell, wofür beide als Mitwirkende benötigt werden. Wir sollten unser Denken nicht länger auf Teilung und Unterschiedlichkeit richten sondern auf Einigkeit, Einheit, ja Einssein, wie sie notwendig sind für das Streben nach einem gemeinsamen Ideal und dessen Verwirklichung, dem vorbestimmten Ziel, der Erfüllung, auf die die Natur zu Beginn dunkel hinstrebte und die sie in einem zunehmenden Licht der Erkenntnis, das ihre erste Unwissenheit ersetzt, ständig weiter verfolgen muss.
Aber was werden jenes Ideal und jenes Ziel sein? Das hängt von unserer Konzeption der Wirklichkeiten des Lebens und der höchsten Wirklichkeit ab.
Hier müssen wir in Betracht ziehen, dass es zwar keine absolute Unterschiedlichkeit, aber doch eine zunehmende Abweichung in den Absichten von Ost und West gab. Die höchste Wahrheit ist die Wahrheit des Geistes; ein höchster Geist über der Welt und doch der Welt immanent und in allem, was existiert, der alles stützt und hinführt zu dem, was auch immer das Ziel und die Erfüllung der Natur ist seit ihren dunklen unbewussten Anfängen durch die Entwicklung von Bewusstsein. Dies ist der eine Aspekt des Daseins, der dem Geheimnis unseres Wesens einen Schlüssel und der Welt einen Sinn gibt. Der Osten hat stets und zunehmend größten Nachdruck auf die höchste Wahrheit des Geistes gelegt; er hat sogar in seinen extremen Philosophien die Welt als Illusion abgetan und den Geist als die einzige Realität betrachtet. Der Westen hat sich immer mehr auf die Welt konzentriert, auf den Umgang von Denken und Leben mit unserer materiellen Existenz, auf unsere Meisterschaft über sie, auf die Vervollkommnung von Denken und Leben und eine Erfüllung des Menschen hier. In jüngerer Zeit ging dies bis zur Leugnung des Geistes und sogar der Inthronisierung der Materie als einziger Wirklichkeit. Spirituelle Vollkommenheit als das alleinige Ideal auf der einen Seite, auf der anderen Seite die Fähigkeit der Rasse zur Vervollkommnung, die vollkommene Gesellschaft, eine vollkommene Entwicklung des menschlichen Denkens und Lebens und der materiellen Existenz des Menschen: Sie sind zum größten Zukunftstraum geworden. Und doch sind beide Ideale Wahrheiten und können als Teile der Intention des Geistes in der Welt-Natur betrachtet werden. Sie sind nicht unvereinbar miteinander, vielmehr ist ihre Divergenz zu überwinden. Beide müssen in unserer Zukunftsvision einbezogen sein und ausgesöhnt werden.
Die Wissenschaft des Westens hat die Evolution als das Geheimnis des Lebens und dessen Ablauf in dieser materiellen Welt entdeckt. Aber sie hat mehr Gewicht auf die Entwicklung von Gestalt und Art gelegt als auf die Entwicklung von Bewusstsein, ja, das Bewusstsein wurde als ein Nebenumstand betrachtet und nicht als das ganze Geheimnis des Sinngehalts der Evolution. Eine Evolution wurde von gewissen Denkern im Osten, von gewissen Philosophien und Heiligen Schriften zugestanden, aber dort lag ihr Sinn im Wachstum der Seele durch Entwicklung oder den Durchgang durch aufeinanderfolgende Formen und viele Leben des Individuums bis zu seiner eigenen höchsten Wirklichkeit. Denn wenn es ein bewusstes Wesen in der Form gibt, kann dieses Wesen kaum ein vorübergehendes Bewusstseinsphänomen sein; es muss eine Seele sein, die sich selbst erfüllt, und diese Erfüllung kann nur stattfinden, wenn es eine Rückkehr der Seele zur Erde in vielen sukzessiven Leben, in vielen aufeinanderfolgenden Körpern gibt.
Der Ablauf der Evolution war die Entwicklung eines unterbewussten und dann eines bewussten Lebens in und aus einer unbewussten Materie, des bewussten Mentals zuerst im Tierleben und dann vollständig im bewussten und denkenden Menschen, die höchste gegenwärtige Leistung evolutionärer Natur. Die Errungenschaft des mentalen Wesens ist gegenwärtig ihr höchstes Werk, und man neigt dazu, sie als ihr letztes zu betrachten. Aber es ist möglich, sich einen noch weiteren Schritt der Evolution vorzustellen: Die Natur kann jenseits des unvollkommenen Mentals des Menschen ein Bewusstsein anvisieren, das die Unwissenheit des Mentals überwindet und Wahrheit als sein angestammtes Recht und seine angeborene Natur besitzt. Es gibt ein Wahrheits-Bewusstsein, wie es im Veda genannt wird, oder ein Supramental, wie ich es genannt habe, das Wissen besitzt, sie nicht suchen muss und ständig verfehlt. In einer der Upanishaden wird erklärt, dass ein Wesen des Wissens der nächste Schritt über das mentale Wesen hinaus sei. Zu ihm muss die Seele sich erheben und durch es die vollkommene Glückseligkeit spiritueller Existenz erlangen. Wenn dies als der nächste evolutionäre Schritt der Natur hier vollbracht werden könnte, dann wäre sie erfüllt, und wir könnten uns die Vollkommenheit des Lebens auch hier vorstellen, die Erlangung eines vollen spirituellen Lebens selbst in diesem Körper oder vielleicht in einem vervollkommneten Körper. Wir könnten sogar von einem göttlichen Leben auf Erden sprechen. Unser menschlicher Traum von der Fähigkeit zur Vollkommenheit wäre erfüllt und zugleich auch die Sehnsucht nach einem Himmel auf Erden, die einigen Religionen, spirituellen Sehern und Denkern gemein ist.
Der Aufstieg der menschlichen Seele zum höchsten Geist ist das höchste Ziel und die höchste Notwendigkeit der Seele, denn das ist die höchste Wirklichkeit; aber es kann auch die Herabkunft des Geistes und seiner Kräfte in die Welt geben, und das würde die Existenz auch der materiellen Welt rechtfertigen, der Schöpfung einen Sinn, einen göttlichen Zweck geben und ihr Rätsel lösen. Ost und West könnten sich versöhnen im Streben nach dem höchsten und weitesten Ideal, Geist könnte Materie umfassen und Materie ihre eigene wahre Wirklichkeit und die in allen Dingen verborgene Wirklichkeit im Geist finden.
