Kapitel 2
Die Praxis des Mantras
Jeder muss sein eigenes Mantra finden
Worte der Mutter
Ich würde sehr gerne ein „wahres Mantra“ haben.
Jeder muss das finden, was für ihn persönlich eine Wirkung besitzt. Ich spreche nur von der physischen Wirkung, denn mental, vital, in allen inneren Wesensbereichen ist die Aspiration immer, immer spontan. Hier geht es nur um die physische Ebene.
Das Physische scheint am offensten für das zu sein, was sich ständig wiederholt. Wie zum Beispiel diese Musik, die wir sonntags spielen, in der drei Reihen von Mantras vorkommen. Das erste ist das Mantra von Chandi, es ist der universalen Mutter gewidmet:
Ya devi sarvabhuteshu matrirupena sansthita
Ya devi sarvabhuteshu shaktirupena sansthita
Ya devi sarvabhuteshu shantirupena sansthita
Namastasyai namastasyai namastasyai namo namah
Das zweite wendet sich an Sri Aurobindo (und ich glaube, sie haben meinen Namen ans Ende gesetzt), es enthält das Mantra, von dem ich eben sprach:
Om namo namah shrimirambikayai
Om namo bhagavateh shriaravindaya
Om namo namah shrimirambikayai.
Und das dritte gilt Sri Aurobindo: „Du bist meine Zuflucht.“
Shriaravindah sharanam mama.
Jedes Mal, wenn diese Musik ertönt, hat es genau denselben Effekt auf den Körper. Es ist seltsam, als weiteten sich alle Zellen mit dem Eindruck, dass der Körper größer wird… Alles weitet sich, als fülle er sich mit Licht – mit Kraft, großer Kraft. Und diese Musik bildet Spiralen wie leuchtender Weihrauch, weiß (nicht durchsichtig, wirklich weiß), der höher und höher steigt. Jedes Mal sehe ich dasselbe: Es beginnt in der Form einer Vase, dann weitet es sich wie eine Amphore, und schließlich sammelt es sich höher oben, um sich wie eine Blüte zu entfalten.
Bei diesen Mantras hängt es wirklich davon ab, was man sucht. Ich bin für ein kurzes Mantra, besonders wenn man eine sehr häufige, aber dennoch spontane Wiederholung erreichen will – ein, zwei, höchstens drei Wörter. Denn man muss es jederzeit benutzen können, zum Beispiel bei einem Unfall. Es muss hervorquellen, ohne daran zu denken, ohne es zu rufen: Es sollte dem Wesen spontan entspringen, wie ein Reflex, genau wie ein Reflex. Dann erhält das Mantra seinen vollen Wert.
Bei mir persönlich werden an Tagen ohne besondere Sorgen oder Schwierigkeiten (an „normalen“ Tagen, wo ich „normal“ bin) alle Handlungen, alle Bewegungen dieses Körpers, alle Worte, die ich äußere, alle Gesten von diesem Mantra begleitet und unterstützt oder gleichsam gefüllt:
OM NAMO BHAGAVATEH … OM NAMO BHAGAVATEH … die ganze Zeit, die ganze Zeit, die ganze Zeit.
Das ist der normale Zustand. Und es erzeugt eine Atmosphäre von beinahe größerer materieller Intensität als das Subtilphysische; es ist … fast wie die Ausstrahlung eines Mediums. Es hat eine große Wirkung: Das kann einen Unfall abwenden. Und das begleitet dich die ganze Zeit, die ganze Zeit.
Wenn du also eine Notwendigkeit verspürst – nicht hier, im Kopf, sondern hier im Herzzentrum –, dann wird es kommen. Eines Tages wirst du entweder die Worte hören, oder sie entspringen deinem Herz… Das musst du dann bewahren.

Ein Mantra, das von innen kommt, besitzt Leben
Worte der Mutter
Das wahre Mantra kann einem niemand geben. Es lässt sich nicht geben, sondern es steigt von innen auf. Es muss plötzlich spontan von innen aufspringen, wie ein tiefes, intensives Bedürfnis deines Wesens. So hat es Macht, denn es kommt nicht von außen, es ist dein eigener Ruf.
Für mich habe ich gesehen, dass mein Mantra die Kraft der Unsterblichkeit hat. Wenn ich es bei irgendeinem Geschehen ausspreche, dominiert der Höchste, nicht mehr das niedrige Gesetz. Die Worte haben keine spezielle Bedeutung, sie brauchen nichts auszusagen – für jemand anderen hat mein Mantra keinen Sinn, aber für mich ist es voll, randvoll von Sinn. Es ist wirkungsvoll, weil es mein Ruf ist, die intensive Aspiration meines ganzen Wesens.

Die Macht des Mantras
Worte der Mutter
Wenn dir ein Guru ein Mantra gibt, hat es nur die Macht, die Erfahrung desjenigen zu verwirklichen, der das Mantra entdeckte. Die Macht ist automatisch da, weil der Ton die Erfahrung enthält. Zu einer Zeit, als ich nichts über Indien wusste, absolut nichts als die üblichen Geschichten, konnte ich das einmal in Paris beobachten. Ich wusste nicht einmal, was ein Mantra war. Ich besuchte den Vortrag eines Mannes, der angeblich im Himalaya ein Jahr lang „Yoga“ praktiziert hatte und nun von seiner Erfahrung erzählte (die übrigens nicht besonders interessant war). Im Verlauf seines Vortrages sprach er plötzlich den Laut OM aus. Vor meinen Augen füllte sich das ganze Zimmer augenblicklich mit Licht an, einem goldenen, vibrierenden Licht… Ich bemerkte es wahrscheinlich als einzige. Ich sagte mir „Sieh an!“ Dann beachtete ich es nicht weiter und vergaß die Geschichte. Aber in der Folge wiederholte sich die Erfahrung zwei-, dreimal in verschiedenen Ländern, mit verschiedenen Leuten, und jedes Mal, wenn der Laut OM erklang, sah ich unmittelbar, wie dasselbe Licht den Ort erfüllte. Da verstand ich. Dieser Ton enthält die Schwingung von Tausenden und Abertausenden von Jahren spiritueller Aspiration – die ganze Aspiration der Menschen zum Höchsten ist darin enthalten. Die Macht stellt sich automatisch ein, weil die Erfahrung im Laut enthalten ist.

Aufrichtigkeit der Aspiration und Mantra
Worte der Mutter
Es sind nicht die Worte an sich, sondern all das, was sie in ihrer Schwingung darstellen und mit sich bringen… Es wäre somit absolut unzutreffend zu sagen: „Genau diese Worte helfen.“ Sie bilden aber eine Begleitung – eine Begleitung von Schwingungen (subtilphysischen Schwingungen) –, und das hat eine Art Zustand oder Erfahrung aufgebaut, eine Beziehung zwischen ihrer Gegenwart und dieser Bewegung des ewigen Lebens, der Wellenbewegung.
Ein anderes Bewusstseinszentrum, eine andere (wie soll ich sagen?), eine andere Konkretisierung, ein anderes Amalgam könnte und würde natürlich eine andere Schwingung wählen.
Um es einfach auszudrücken, hilft die Schwingung des Mantras dem Körper, in einen bestimmten Zustand zu treten – es ist aber nicht dieses Mantra an sich, sondern die besondere Beziehung, die sich zwischen einem Mantra und dem Körper gebildet hat (es muss ein wahres Mantra sein, das heißt eines, das mit Macht ausgestattet ist). Es kommt spontan: Sobald der Körper zu gehen beginnt, geht er im Rhythmus dieser Worte. Und der Rhythmus der Worte bringt ganz natürlich eine bestimmte Schwingung mit sich, die ihrerseits diesen Zustand bewirkt.
Es wäre aber falsch zu sagen, dass ausschließlich diese besonderen Worte dazu führen. Das wäre eine Dummheit. Worauf es ankommt, ist die Aufrichtigkeit der Aspiration, die Genauigkeit des Ausdrucks und die Kraft – das heißt die Kraft, die aus der Annahme des Mantras herrührt. Das ist sehr interessant: Das Mantra wurde durch die höchste Macht als wirksames Mittel akzeptiert, und dadurch enthält es sofort eine bestimmte Kraft, eine bestimmte Macht1. Das ist aber ein rein persönliches Phänomen (der Ausdruck ist derselbe, die Schwingungen sind jedoch persönlich). Ein Mantra, das den einen direkt zur göttlichen Verwirklichung führt, könnte einen anderen kalt und unberührt lassen.

Dein Mantra in Schwierigkeiten
Worte der Mutter
Wenn du beim Spielen auf einmal merkst, dass etwas nicht stimmt – du machst Fehler, bist unaufmerksam, manchmal kommen Gegenströmungen in die Quere –, wenn du die Gewohnheit entwickelst, in dem Augenblick unwillkürlich wie mit einem Mantra zu rufen, ein Wort zu wiederholen, so hat dies eine außerordentliche Wirkung. Du wählst dein Mantra, oder vielmehr kommt es eines Tages bei einer Schwierigkeit spontan zu dir. Zu einem Zeitpunkt, wo die Dinge sehr schwierig sind, wenn du irgendwie voller Sorge und Angst bist, nicht weißt, was dir bevorsteht, da taucht es plötzlich in dir auf, das Wort springt in dir auf. Für jeden kann es anders sein. Wenn du es nun merkst und jedes Mal im Angesicht einer Schwierigkeit wiederholst, wirkt es unwiderstehlich. Zum Beispiel, wenn du fühlst, dass du krank wirst, wenn du fühlst, dass du deine Sache schlecht machst, wenn du fühlst, etwas Schlimmes lauert auf dich, dann… Doch muss es dir spontan entspringen, ohne dass du darüber nachdenkst: Du wählst dein Mantra, weil es der spontane Ausdruck deiner Aspiration ist. Es kann ein Wort sein, zwei oder drei Wörter, ein Satz, das hängt von jedem selbst ab, aber es muss ein Klang sein, der in dir einen bestimmten Zustand hervorruft. Wenn du das hast, dann versichere ich dir, dass du ohne Schwierigkeit durch alles kommen kannst. Sogar bei einer wirklichen, tatsächlichen Gefahr, einem Angriff beispielsweise, jemand will dich umbringen, wenn du da ohne Aufregung, ohne dich aus der Fassung bringen zu lassen, ruhig dein Mantra wiederholst, kann dir nichts geschehen. Natürlich musst du Meister deiner selbst sein, kein Teil deines Wesens darf wie Espenlaub zittern. Nein, du musst es ganz tun und aufrichtig, dann ist es allmächtig. Am besten ist es, wenn dir das Wort spontan kommt: Du rufst also in einem Augenblick großer Schwierigkeit (mentaler, vitaler, physischer, emotionaler, ganz gleich), und plötzlich bricht es aus dir hervor, zwei oder drei Wörter. Wie Zauberworte. Du musst dich daran erinnern und dir zur Gewohnheit machen, sie bei Schwierigkeiten zu wiederholen. Gewöhnst du dich daran, so kommt es eines Tages ganz spontan: Sobald die Schwierigkeit kommt, kommt auch das Mantra. Dann wirst du sehen, wie wunderbar die Ergebnisse sind. Aber es darf nichts Künstliches sein, du darfst nicht willkürlich beschließen: „Diese Worte werde ich benutzen“, noch sollte jemand anderes dir sagen: „Oh, weißt du, dieses ist sehr gut“ – es ist vielleicht gut für ihn, aber nicht für jedermann.

Wiederhole dein Mantra vor dem Einschlafen
Worte der Mutter
Du musst flach auf dem Rücken liegen und alle Muskeln und alle Nerven entspannen – es ist leicht zu lernen –, um wie das zu sein, was ich ein Laken auf dem Bett nenne: Es bleibt nichts anderes übrig. Und wenn du das auch mit dem Verstand tun kannst, wirst du all diese dummen Träume los, die dich weitaus müder machen, als du es beim Zubettgehen warst. Es ist die zelluläre Aktivität des Gehirns, die ohne Kontrolle weitergeht, und das ermüdet einen sehr. Also, eine totale Entspannung, eine Art völlige Ruhe, ohne Spannung, in der alles gestoppt wird. Aber das ist erst der Anfang.
Danach machst du eine so vollständige Hingabe wie möglich, von allem, von oben nach unten, von außen nach innen, und eine so vollständige Ausrottung des gesamten Widerstandes des Ego. Und du fängst an, dein Mantra zu wiederholen – dein Mantra, wenn du eines besitzt oder du ein anderes Wort hast, das eine Kraft für dich hat, ein Wort, das spontan dem Herzen entspringt, wie ein Gebet, ein Wort, das deine Aspiration zusammenfasst. Nachdem du es eine bestimmte Anzahl von Malen wiederholt hast, gehst du, wenn du es gewohnt bist, in Trance. Und aus dieser Trance gehst du in den Schlaf. Die Trance hält so lange an, wie es sein sollte, und ganz natürlich geht man spontan in den Schlaf über. Aber wenn man aus diesem Schlaf zurückkehrt, erinnert man sich an alles. Der Schlaf war wie eine Fortsetzung der Trance.
Grundsätzlich ist der einzige Zweck des Schlafes, den Körper in die Lage zu versetzen, die Wirkung der Trance aufzunehmen, so dass die Wirkung überall empfangen werden kann, sowie den Körper in die Lage zu versetzen, seine natürliche nächtliche Funktion der Ausscheidung von Giftstoffen zu erfüllen. Und wenn du aufwachst, gibt es nicht die Spur von Schwere, die aus dem Schlaf kommt: Die Wirkung der Trance hält an.
Selbst für diejenigen, die noch nie in Trance waren, ist es gut, ein Mantra, ein Wort, ein Gebet zu wiederholen, bevor sie in den Schlaf gehen. Aber es muss ein Leben in den Worten geben. Ich meine nicht eine intellektuelle Bedeutung, nichts dergleichen, sondern eine Schwingung. Und seine Wirkung auf den Körper ist außergewöhnlich: Er beginnt zu schwingen, zu vibrieren, zu vibrieren, zu vibrieren…, und leise lässt du dich gehen, als ob du schlafen gehen wolltest. Der Körper schwingt immer mehr, immer mehr, immer mehr, immer mehr, immer mehr, und los geht es. Das ist das Heilmittel für Tamas.

1 Mutter spricht nicht nur von ihrem eigenen Mantra, sondern von allen, wie sie später erläuterte: „Jedes Mantra hat nur eine Wirkung, wenn es von der Macht akzeptiert wird, an die es sich richtet. Wenn man ein Mantra für irgendeine Gottheit wiederholt, wie die Tantriker zum Beispiel, und die Gottheit das Mantra akzeptiert, dann erhält es die Kraft, wenn aber die Gottheit es nicht akzeptiert, dann hat euer Mantra keine Macht. Ich habe das nicht gelesen: Ich weiß es aus eigener Erfahrung. Ich glaube aber, dass das auch in den tantrischen Texten erklärt wird.“