Kapitel 2
Der innere und äußere Ashram
Ich will euch heute eine Geschichte erzählen, aber von einer anderen Art. Ich will euch von einem Traum oder einer Vision erzählen, die ich vor einiger Zeit hatte. Es war ein Ashram, – ich sage Ashram, aber er war nicht ganz so wie unser Ashram, obschon es eine große Ähnlichkeit zwischen beiden gab. In mancher Hinsicht war er wie unser Ashram, und in manchen Punkten irgendwie anders. Zuerst einmal befand sich der ganze Ashram an einem Ort und war unter einem Dach organisiert. Es gab keine hier und dort verstreuten Häuser, keine Gebäude oder Häuser, die anderen Leuten oder anderen Organisationen gehörten. Auch waren die Gebäude schön anzusehen und die allgemeine Gestaltung artistisch. Aber alle Aktivitäten, die wir hier haben, gab es dort auch: Die Schule war da, auch der Playground und die Bücherei, aber alles in großer Ordnung. Die Mutter war ebenso da; sie ging überall hin, beobachtete alles und sprach mit den Leuten. Von den Leuten erkannte ich seltsamerweise einige, – einige, die sogar jetzt hier sind; es gab auch viele Fremde aus anderen Ländern, eine ganze Menge. Der Eindruck derer, die heute hier sind, und die ich dort zu erkennen schien, ist sehr vage und ich kann sie nicht nennen. Aber einige, die hier waren und gestorben sind, erkannte ich sehr gut; sie hatten alle fast das gleiche Gesicht und die gleichen Gesichtszüge – aber von neuer, frischer und jüngerer Form. Sie waren aktive und gutaussehende junge Männer und junge Frauen.
Ich erinnere mich daran, wie Sri Aurobindo aus dem Rig Veda zitierte. Der vedische Rishi spricht über eine glückliche Herde von Kühen, die auf grünen Wiesen weiden, und fügt hinzu, dass sogar die unter ihnen, die alt waren, jetzt wieder jung wurden. Für den Rishi repräsentierte die Kuh das Licht, den Strahl der Sonne, die Reinheit des Bewusstseins. Vielleicht entsprang das Bild dem aktuellen Leben des Rishis in jener Zeit: Die Menschen hielten Vieh und Haustiere und lebten in einer natürlichen Landschaft. All das war ein wichtiger Teil ihres normalen täglichen Lebens. Eine ganze Herde von Kühen, alle weiß, ist ein schönes Bild. Genauso gab es etwas in der Ashram-Atmosphäre, das ihr eine besondere Qualität verlieh; es war hell, rein, klar und transparent, es war ein seltsames Leuchten darin und eine sehr fröhliche Atmosphäre. Während ihr dort wart, fühltet ihr euch frei und leicht, und es gab keine kleinlichen Gefühle, die wir hier im normalen weltlichen Leben haben, keinen Ärger, keine Eifersucht, keine Selbstsucht, keine Hässlichkeit: Dort waren alle Personen und Dinge auf glückliche Weise aufeinander eingestimmt.
Mein Gefühl ist, dass dieser Ashram, den ich sah, eigentlich die innere Wirklichkeit unseres Ashrams hier darstellte, den inneren Ashram, der in uns allen ist. Was wir momentan sehen, ist die äußere Form, die materielle Form, die erheblich deformiert und auf vielerlei Weise sogar verfälscht ist. Der innere Ashram hatte wirklich eine übernatürliche eigene Atmosphäre, eine Atmosphäre selten erreichter Höhen. Ich habe euch sehr oft gesagt, dass diejenigen, die hier sind, sich glücklich schätzen können; sie atmen diese Atmosphäre, und trotz ihrer Fehler und Schwächen und ganz gleich, was sie tun, sind sie in Kontakt mit ihrer inneren Schönheit und ihrem Duft. Ich weiß nicht, ob ihr gehört habt, wie die Mutter mehr als einmal sagte, dass alle Kinder hier eine neue Atmosphäre aufsaugen und mit sich tragen, wenn sie eine Zeit lang hier leben. Sie konnte eine Person aus der Ferne erkennen, sogar aus großer Entfernung, nicht an ihrem Gesicht oder körperlichen Merkmalen, sondern an ihrer Atmosphäre, die sehr verschieden war von der Atmosphäre, die jemand von außerhalb normalerweise mit sich trägt. Es ist eine Atmosphäre oder Aura, die aus Fröhlichkeit und Reinheit und Strahlen besteht. Alle Ashramkinder sind von dieser Atmosphäre umgeben, weil es die eigene Atmosphäre der Mutter ist.
Deswegen hat sie damals immer gesagt, dass die Kinder sogar in ihren Ferien nicht in die Welt außerhalb gehen sollten. Denn, wenn sie gehen (sie sagte, sie hätte es gesehen), verlieren sie diese Ashram-Atmosphäre, und wenn sie wiederkommen, sind sie von einer dicken Schicht Schmutz der gewöhnlichen Welt bedeckt. Und es kostete sie viel Zeit und Mühe, den Unrat vom Körper zu scheuern und ihn zu reinigen, damit er wieder so leuchtete wie vorher. Ihr erinnert euch vielleicht in diesem Zusammenhang an die Geschichte, die Ramakrishna über die Sünder erzählt hat, die zum Ganges gehen, um sich zu reinigen. Sie lassen ihre Missetaten am Ufer zurück oder werden von ihnen verlassen, während sie sich ins Gangeswasser begeben; aber die Sünden warten am Ufer auf sie, und sobald sie reingewaschen zurückkommen, werfen sich die auf der Lauer liegenden Vergehen wieder auf sie, und die Sünder bleiben ewig Sünder. Hier braucht ihr natürlich nicht immer Sünder zu bleiben.
Aber jene Atmosphäre, die innere Atmosphäre, existiert hier immer noch. Nachdem die Mutter ihren physischen Körper verlassen hat, mag sie sich vielleicht ein wenig zurückgezogen haben, nur ein wenig, gerade vielleicht ein paar Zentimeter! Aber die Mutter ist immer noch so konkret hier wie zuvor, obschon nicht materiell. Wie ich sagte, es gibt einige, die hier verstorben sind und auch einige neue Gesichter, die ich in diesem anderen inneren Ashram fand. Sie befinden sich schon vollständig in jenem Ashram. Aber wir, die wir hier sind, wir führen sozusagen ein Doppelleben: Ein Teil von uns ist hier und ein Teil ist in jenem inneren Ashram, als ob ein Fuß auf dieser Seite und der andere Fuß auf der anderen Seite des Zaunes wäre. In euren besseren Augenblicken, wenn ihr euch gut und frei fühlt, wenn ihr glücklich seid, wenn ihr in einer edlen Gemütsverfassung seid, kommt ihr mit jenem inneren Ashram in Kontakt und atmet seine Atmosphäre. Auch im Traum, während ihr schlaft, scheinbar schlaft, müssen viele von euch die Mutter gesehen haben, viele müssen Sri Aurobindos Darshan gehabt haben. Das liegt daran, dass ihr mit der inneren Atmosphäre in Kontakt gekommen seid und euch in ihr befindet.
Nun ist es unsere Aufgabe, sogar in unserem Wachzustand immer mehr mit dieser Wirklichkeit in Kontakt zu kommen und uns ihrer bewusst zu sein, die nichts anderes ist als die Gegenwart der Mutter. Eine Hälfte von euch, euer inneres Leben, ist schon dort und badet in der strahlenden, glücklichen Atmosphäre. Nur versucht euch dessen bewusst zu sein. Wenn ihr auch nur ein bisschen bewusst seid, werdet ihr euch sehr glücklich fühlen, – fühlen, dass ihr schön seid, dass ihr weise seid, wenn ihr dieses innere Ashramleben spürt. Und anstatt ganz oder hauptsächlich das äußere Leben des Ashrams, wie es jetzt ist, zu leben, könnt ihr dieses Leben in das innere Leben verwandeln und allmählich das jetzige äußere dem inneren Leben entsprechend umformen. Das ist eure Pflicht, eure Aufgabe, besonders, weil ihr Schüler seid, Jungen und Mädchen. Das ist eure Hauptaufgabe; Studieren und Lernen ist zweitrangig. Was ihr tun solltet und tun könnt, ist, eine neue Luft zu atmen, auf bessere und schönere Weise zu leben. Ihr könnt dieses innere Leben haben; es ist schon da, ohne große Schwierigkeit. Dieses kollektive Leben ist so schön, wie ich sage, und es ist erfüllt vom Duft von Mutters Gegenwart. Es ist ein kollektives Leben, in dem ihr alle nicht nur Brüder und Schwestern seid, sondern ein einziger Körper und eine einzige Seele, vereint im liebenden und lebendigen Wesen der Mutter.
Dieses innere Leben müsst ihr in euren Körper und all die äußeren Aktivitäten bringen. Es ist gerade die Natur dieser inneren Organisation, sich nach außen auszudrücken. Sie will sich ganz spontan ausdrücken und verkörpern. Sogar wenn ihr es nicht wisst oder erkennt, kommt sie langsam hervor. Nur wenn ihr bewusst seid, wenn ihr helft, wenn ihr mitarbeitet, werdet ihr davon profitieren. Euer Bewusstsein wird wachsen und ihr werdet ein neues Format bekommen; ihr werdet das höchste Glück einer wunderbaren Errungenschaft genießen.
Wie ich sage, gibt es im Augenblick eine Trennung zwischen den beiden Ashrams, diesen beiden Welten oder Leben. Sie verlaufen parallel zueinander oder sind öfter miteinander verflochten, vermischt, stimmen schlecht überein. Wir müssen sie zu einem einzigen Leben verschmelzen lassen. Das innere Leben muss das äußere Leben aufnehmen und assimilieren; das äußere muss sich selbst erlauben, gereinigt und von seinem Unrat befreit und gänzlich vom inneren in Besitz genommen zu werden. Sie müssen zu einer fortschrittlich gestalteten Einheit werden, einem Wesen, einem Leben, einem Körper.
Ich sagte, dass eure Aufgabe darin besteht, zu versuchen bewusst zu werden und immer mehr am inneren Leben teilzunehmen. Natürlich fragt ihr, wie ihr das tun könnt. Eigentlich gibt es kein genaues Verfahren, keine allgemeine Regel, dies zu lernen oder zu erreichen. Es ist nicht wie das Lernen von Mathematik oder irgendeiner Übung, die ihr euch durch Gewohnheit oder Bildung aneignet. Es ist nichts Mechanisches; es ist ein natürliches Wachsen. Es kommt automatisch und spontan, es zeigt sich euch und in euch. Ihr müsst es nur aufrichtig wünschen, immer wieder so intensiv wie möglich danach streben und wie ein Mantra wiederholen: „Ich möchte dort sein, ich möchte dort sein, ich möchte dort sein.“ Das genügt vollauf. Das wird in euch das neue Licht hervorholen, den neuen Impuls, der euch voranführen wird. Das ist der Ruf des Kindes zur Mutter und die Mutter antwortet immer – mit ihrem Licht, ihrem Leben und ihrer Liebe.
Euch wurde gesagt, und auch ich habe oft gesagt, dass, obwohl der physische Körper der Mutter nicht hier ist, sie ihr Bewusstsein bei uns gelassen hat: Ihr Bewusstsein ist immer noch lebendig, wirkt immer noch. Sie sagte selbst, dass ihr Bewusstsein immer hier bei uns sein würde, falls sie jemals ihren Körper verließe. Aber ich will noch etwas hinzufügen. Was außer ihrem Bewusstsein, das sie bei uns gelassen hat, noch bleiben wird, ist ihre Liebe. Ihre Liebe zu ihren Kindern ist immer noch in gleicher Fülle hier wie zuvor. Ich sprach vom inneren Ashramleben; jenes Leben ist aus ihrer Liebe zu ihren Kindern aufgebaut. Es sollte leicht für euch sein, durch eure Liebe zur Mutter, die auf die Liebe der Mutter zu euch antwortet, an diesem Leben teilzunehmen und euch daran zu erfreuen. Und durch das Glühen dieser Liebe werdet ihr euch allmählich zu dem entwickeln, was sie für euch gewünscht hat.
Veröffentlicht im April 1975
