Kapitel 17

Wiedergeburt und Persönlichkeit

Du solltest einen weit verbreiteten Irrtum hinsichtlich der Reinkarnation vermeiden. Die allgemeine Vorstellung ist, dass Titus Balbus als John Smith wiedergeboren wird, als ein Mensch mit der gleichen Persönlichkeit, dem gleichen Charakter und den gleichen Fähigkeiten, die er in einem früheren Leben besaß, mit dem einzigen Unterschied, dass er Mantel und Hosen trägt an Stelle einer Toga und dass er Cockney-Englisch spricht statt des volkstümlichen Lateins. Das ist nicht der Fall. Es hätte nicht den geringsten Sinn, die gleiche Persönlichkeit oder den gleichen Charakter Millionen Male vom Anbeginn der Zeit bis an ihr Ende zu wiederholen. Die Seele tritt um der Erfahrung willen in die Geburt ein, um des Wachstums und der Entwicklung willen, bis sie das Göttliche in die Materie bringen kann. Es ist das zentrale Wesen, das sich inkarniert, nicht die äußere Persönlichkeit, – die Persönlichkeit ist lediglich eine Form, die das zentrale Wesen in diesem einen Leben sich für seine Erfahrungen schafft. In einer anderen Geburt wird es sich eine andere Persönlichkeit schaffen, andere Fähigkeiten, ein anderes Leben, das anders verläuft. Angenommen Virgil würde wiedergeboren, dann kann er durchaus in einem oder zwei weiteren Leben sich wieder der Poesie zuwenden, doch vermutlich wird er nicht wieder ein Epos schreiben, sondern eher eine leichte, doch elegante und schöne Lyrik, derart wie er sie in Rom schreiben wollte, doch nicht konnte. In einem weiteren Leben wird er vermutlich überhaupt kein Dichter sein, sondern ein Philosoph und Yogi, der die höchste Wahrheit zu erreichen und auszudrücken sucht, denn auch dies war ein unverwirklichter Zug seines Bewusstseins in jenem Leben. Und vielleicht war er zuvor ein Krieger oder Herrscher gewesen und hatte Taten wie Aeneas oder Augustus vollbracht, die er dann später besang. Und so weiter – auf die eine oder andere Weise entfaltet das zentrale Wesen einen neuen Charakter, eine neue Persönlichkeit, es wächst und entwickelt sich und geht durch alle Arten der Erderfahrung. In dem Maße, wie das sich entfaltende Wesen weitergeformt und reicher und komplizierter wird, sammelt es gleichsam Persönlichkeiten an. Manchmal verbergen sich diese hinter den aktiven Elementen und verleihen jenen etwas Farbe, einen charakteristischen Zug, hier und da eine Fähigkeit – oder aber sie stehen im Vordergrund und es entsteht eine vielschichtige Persönlichkeit, ein vielseitiger Charakter oder eine vielseitige, ja gleichsam universale Befähigung. Doch wenn eine frühere Persönlichkeit, eine frühere Fähigkeit voll in Erscheinung tritt, dann nicht deshalb, um das zu wiederholen, was bereits getan wurde, sondern um die gleiche Fähigkeit in neue Formen und Umrisse zu gießen und zu einer neuen Harmonie des Wesens zu verschmelzen, die nicht die Wiederholung dessen sein wird, was vorher war. Daher darfst du nicht erwarten, das zu sein, was der Krieger und Dichter waren. Einige der äußeren kennzeichnenden Eigenschaften mögen wiederkehren, jedoch in sehr veränderter Form und neuer Zusammenstellung. Die Energien werden in eine andere Richtung gelenkt, um das zu vollbringen, was vorher nicht vollbracht wurde.

Noch etwas anderes. Nicht die Persönlichkeit, sondern der Charakter ist bei der Wiedergeburt von vordringlicher Wichtigkeit – das seelische Wesen ist es, das hinter der Evolution der menschlichen Natur steht und sich mit ihr entfaltet. Die Seele, sobald sie sich vom Körper ablöst und das Mental und Vital auf dem Wege zu ihrem Ruheplatz zurücklässt, bewahrt den Kern der Erfahrungen – nicht die physischen Ereignisse, die vitalen Bewegungen, den mentalen Aufbau, nicht die Fähigkeiten oder Charaktere, sondern etwas Wesentliches, das sie aus diesen bezieht, etwas, das man das göttliche Element nennen könnte, um dessentwillen das Übrige bestand. Und das ist die immerwährende Hinzufügung, die dazu beiträgt, dem Göttlichen entgegenzuwachsen. Daher hat man auch meist keine Erinnerung an die äußeren Ereignisse und Umstände des vergangenen Lebens, die zwar in einer Art keimhaften Erinnerung vorhanden sind, doch gewöhnlich nicht in Erscheinung treten – für eine derartige Erinnerung hätte eine kraftvolle Entwicklung auf ein ununterbrochenes Fortbestehen des Mentals, Vitals, und selbst des feinen Physischen stattfinden müssen. Das, was das göttliche Element im Großmut des Kriegers war, was sich in seiner Treue, in seinem Adel, seinem Edelmut zeigte, das, was das göttliche Element in der harmonischen Geistigkeit und weitherzigen Vitalität des Dichters war und sich in ihnen ausdrückte, das wird bestehen bleiben und in einer neuen Harmonie des Charakters einen neuen Ausdruck finden; oder aber es wird, wenn sich das Leben dem Göttlichen zuwendet, als Fähigkeit für die Verwirklichung oder die Arbeit, die für das Göttliche zu geschehen hat, in Erscheinung treten.

17. Juni 1933

Wir benutzen Cookies

Wir verwenden auf unserer Website nur für den Betrieb notwendige sowie sogenannte Session Cookies, also ausdrücklich keine Werbe- oder Trackingcookies.

Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Website zur Verfügung stehen.