Kapitel 14
Das Leben als Spiegel benutzen
Worte der Mutter
Es ist wirklich bemerkenswert, wie man eine Schwäche, irgend etwas Lächerliches, einen Mangel oder eine Unvollkommenheit bei sich selbst für ganz natürlich hält, hingegen dieselbe Schwäche, dieselbe Unvollkommenheit, dieselbe Lächerlichkeit bei jemand anders ganz und gar anstößig findet. Man sagt: „Was! Der ist so?“ und sieht nicht, dass man selbst „so“ ist. Und man fügt damit zur Schwäche und zur Unvollkommenheit auch noch die Lächerlichkeit hinzu, dass man es nicht einmal merkt.
Daraus kann man etwas lernen: Wenn dir bei einem anderen etwas völlig unannehmbar oder lächerlich vorkommt – „Wie! So ist der? So führt er sich auf? solche Sachen sagt er? So etwas macht er ?“ –, dann sollte man sich sagen: „Schau, schau! Aber vielleicht ist es mit mir auch so, und ich merke es nur nicht. Ich sollte besser erst einmal mich selbst betrachten, bevor ich andere kritisiere, um ganz sicher zu sein, dass ich nicht mit einer kleinen Abweichung genau dasselbe tue.“ Und hat man genügend gesunden Menschenverstand, dies jedes Mal zu tun, wenn man bei jemand anderem etwas anstößig findet, dann stellt man fest, dass im Leben die Beziehung zu den anderen wie ein Spiegel ist, der uns vorgehalten wird, damit wir unsere Schwächen leichter und klarer erkennen können.
Was dich bei anderen stört, ist in der Regel gerade etwas, das du in dir selber hast, mehr oder weniger verhüllt, mehr oder weniger versteckt, vielleicht in einer etwas anderen Form, die dir erlaubt, dich selbst zu täuschen; und was dich an dir selbst nicht stört, wirkt haarsträubend, wenn du es an anderen siehst.
Mache die Erfahrung, das wird dir außerordentlich helfen, dich selbst zu ändern, und zudem bringt es in deine Beziehungen mit anderen eine lächelnde Duldsamkeit, einen verständnisvollen guten Willen, und das beendet sehr oft ganz unnötige Streitereien.
Man kann nämlich leben, ohne sich zu streiten. Das hört sich lustig an, aber wie die Dinge stehen, sieht es im Gegenteil so aus, als wäre das Leben zum Streiten da; denn die Hauptbeschäftigung der Menschen, die zusammen leben, ist offener oder heimlicher Streit. Man wirft sich zwar nicht immer Grobheiten an den Kopf, man wird nicht immer handgemein (glücklicherweise), aber es gibt einen Zustand ständiger Gereiztheit, weil man um sich herum nicht die Vollkommenheit antrifft, die man selbst verwirklichen möchte – und die man recht schwer zu verwirklichen findet, nichtsdestoweniger anderen ganz natürlich zumutet.
„Wie können die nur so sein!?“ Man vergisst, wie schwierig man es selber findet, nicht „so“ zu sein!
Versuche es, du wirst sehen!
Begegne allem mit einem wohlwollenden Lächeln, nimm die Dinge, die dich ärgern, als eine Lehre für dich selbst, und du lebst viel friedlicher und auch wirksamer; denn gewiss wird ein hoher Prozentsatz von Energie mit Ärger vergeudet, den man darüber verspürt, dass man bei anderen die Vollkommenheit nicht findet, die man selbst verwirklichen möchte.
Man bleibt bei dem stehen, was die anderen verwirklichen sollten, und ist sich oft des eigenen Ziels nicht bewusst. Sei dir dessen bewusst, wohl an, beginne damit, die dir gegebene Arbeit zu tun, nämlich das zu verwirklichen, was dir obliegt, ohne dich um das zu kümmern, was andere tun, denn im Grunde geht dich das gar nichts an. Die richtige Haltung nimmst du am Besten ein, indem du dir sagst: „Alle, die mich umgeben, alle Umstände meines Lebens, alle Leute, mit denen ich zu tun habe, sind der Spiegel, den mir das Göttliche Bewusstsein vorhält, um mir den Fortschritt zu zeigen, den ich machen muss. Alles, was mich bei anderen ärgert, ist die Arbeit, die ich an mir selbst zu leisten habe.“
Und trüge man in sich eine wahre Vollkommenheit, so würde man sie vielleicht in den anderen häufiger entdecken.
