Kapitel 11

Sri Aurobindo lesen

Nolini Kanta Gupta

Ich hörte, dass du etwas über Sri Aurobindo und die Mutter von mir wissen möchtest. Aber da gibt es drei Arten der Herangehensweise: Du möchtest etwas über sie wissen, etwas von ihnen wissen oder sie kennenlernen wollen. Natürlich ist Letzteres das Beste. Tatsächlich, wenn du etwas wirklich wissen willst, musst du es werden. Werden verleiht das wirkliche Wissen. Aber was bedeutet Sri Aurobindo und die Mutter werden? Ein Teil von ihnen werden, ein integraler Bestandteil ihres Bewusstseins – das ist es, wofür wir hier sind. Und wenn du das tun kannst, weißt du genug…

Ich sagte dir einmal, wie man Sri Aurobindo und die Mutter studieren oder welche Herangehensweise man wählen sollte, wenn man sie lesen oder ihre Schriften verstehen will. Da gibt es zwei Dinge: Studieren und Lesen; ich machte einen Unterschied zwischen beiden. Sri Aurobindo zu studieren ist – ich würde nicht sagen fruchtlos, das ist ein zu starkes Wort, aber es kann nur eine Hilfe oder ergänzender Weg sein. Studium bedeutet: Du nimmst den Text, du verstehst mental jedes Wort und jeden Satz. Wenn du etwas nicht verstehst, nimmst du ein Lexikon und versuchst, die durch Worte ausgedrückte äußere Bedeutung zu erfassen. Das kann notwendig sein, aber es ist nicht der Weg, sich mit ihren Werken zu befassen.

Sie einfach auf die richtige Weise zu lesen, ist genug. Lies, es ist nicht wichtig, was du verstehst und was nicht, lies einfach und warte in einer aufmerksamen Stille. Beim Studieren näherst du dich ihnen mit deinem äußeren Mental, deiner äußeren Intelligenz. Aber was in dem Text enthalten ist, liegt außerhalb deines Mentals, außerhalb deiner Intelligenz. Und mental zu verstehen bedeutet, du treibst deinen Intellekt in diese Sache hinein. Es ist ein Bemühen und bringt dich nur an die Außenseite der Sache. Es ist eine Übung deines Gehirns, auf diese Weise hervorgebracht, aber es bringt dich nicht sehr weit. Stattdessen, angenommen du könntest dein mentales Bewusstsein beruhigen, still machen, und nur lesen, ohne unnötig zu versuchen zu verstehen, und darauf achten, dass das, was da in dem Text ist, in dich eingeht… Statt dass dein Mental vorausstürmt, vorwärts drängt und versucht, die Sache zu erfassen, lass sie in dich hineinkommen, denn was da in den Schriften ist, sind keine Worte und Sätze, totes Material, es ist etwas sehr Lebendiges, etwas Bewusstes, das sie in den Worten, Sätzen und dem Klang und Rhythmus ausgedrückt haben. Und ich möchte dir sagen, dass jeder Satz, irgendwo, nicht zu sprechen von „Savitri“, ein lebendiges Wesen ist, mit dem du dich bekannt machen musst, – nicht, dass du es verstehen oder erklären kannst –, sondern er ist ein lebendiges Wesen, eine Wesenheit, ein Freund, sogar ein Geliebter, den du kennenlernen musst. Und ein solcher Versuch von dir wird belohnt. Du wirst viel mehr Freude haben. Vielleicht fragst du: „Bloß weil ich ein Buch öffne und lese, wie kann das, was in den Zeilen steht, zu mir kommen?“ Aber ich sage, dass es lebendige Wesenheiten sind – wenn du dich ihnen mit dem richtigen Geist näherst, kommen sie in dich hinein. Das Bewusstsein, das Wesen jeder Zeile kommt zu dir. Und du wirst sehen, wie schön es ist. Dies ist eine Herangehensweise der Liebe, nicht des Intellekts um zu verstehen und zu erklären. Nimm zum Beispiel die allererste Zeile von „Savitri“:

„Es war die Stunde, bevor die Götter erwachen.“

Es ist ein Mantra, eine lebendige Person, wie schön es, du musst nicht viel verstehen – und eine ganze Welt eröffnet sich.

Oder nimm den ersten Satz von „Das Göttliche Leben“ – da ist der Wellenrhythmus des unermesslichen Ozeans. Er bringt dir ein Gefühl von Weite, ein Gefühl von Unendlichkeit und trägt dich dorthin. Und, wie ich schon sagte, er ist eine sehr lebendige Wesenheit und Persönlichkeit.

Hier ist die ganze Passage:

„Das früheste Anliegen im erwachten Denken des Menschen und, wie es scheint, sein unentrinnbares und letztes Anliegen ist auch das höchste, das sein Denken sich vorstellen kann – denn es überlebt die längsten Zeiträume des Skeptizismus und kehrt nach jeder Verbannung wieder zurück. Es offenbart sich in der Ahnung der Gottheit, im Impuls zur Vollkommenheit, im Suchen nach reiner Wahrheit und unvermischter Seligkeit, im Empfinden einer geheimen Unsterblichkeit. Die frühen Morgendämmerungen menschlicher Erkenntnis bezeugen dieses ständige sehnsuchtsvolle Streben. Heute sehen wir, dass sich eine Menschheit anschickt, zu ihren ursprünglichen Sehnsüchten zurückzukehren, gesättigt und doch nicht befriedigt von der sieghaften Analyse des Äußeren der Natur. Die älteste Formulierung der Weisheit verspricht auch ihre letzte zu sein: Gott, Licht, Freiheit, Unsterblichkeit.“

Dahinter liegt wirklich eine Persönlichkeit und du musst dich mit dieser Persönlichkeit vertraut machen. Das ist es, wenn ich sagte: werde es, durch eine Annäherung mit Liebe, eine Annäherung mit deiner Seele. Sogar beim Studium solltest du nicht mit dem bloßen Intellekt herangehen, dem bloßen mentalen Verstehen. Gleich welch feines Verstehen oder guten Intellekt du haben magst, sie bringen dich nicht sehr weit. Nur durch deine Seele kannst du weit kommen. Sogar intellektuellen Dingen kannst du dich mit deiner Seele nähern – weil die Seele die Essenz all deiner Fähigkeiten und deines ganzen Wesens ist. Die Seele ist nicht bloß Bewusstsein, bloß ein Wesen, sie versammelt in sich alle Elemente deiner Persönlichkeit. Die Samenkeime deines Mentals, deines Vitals, sogar der physischen Persönlichkeit, der wahren physischen Persönlichkeit sind dort in deiner Seele, und du kannst eine wahre Beziehung mit Dingen und Personen durch diesen Teil deines Wesens – der Seele – herstellen. Und erinnere dich, die Seele ist nicht weit von dir entfernt, denn du bist sie. Eher sind dein Mental, dein Vital und dein Körper weiter von dir entfernt; sie sind nicht deine wahre Persönlichkeit. Es ist die Seele, die dir am nächsten ist.

In diesem Zusammenhang magst du dich daran erinnern, was die Mutter mehr als einmal gesagt hat: Wofür ist man hier? Wofür sind die Kinder hier? Und was gibt sie hier in der Schule, im Playground (Schulhof), in allen Aktivitäten? Es ist nicht die bloße Leistung in den äußeren Aktivitäten, die hier ermöglicht wird, oder die hier ermöglicht werden soll. Denn solche Dinge kann man außerhalb erfolgreicher erlangen – äußere Leistung deines Intellekts, deines Mentals, deiner vitalen Fähigkeiten, deiner physischen Kraft – der russischen oder deutschen Art. Unsere Rekorde entsprechen nicht den ihren, ist es nicht so? Aber wir streben nicht nach diesen Rekorden. Denn, wie die Mutter gesagt hat: „Ich gebe hier etwas, was du an keinem anderen Ort in der Welt bekommen wirst – nirgendwo außer hier.“ Äußerlich magst du eine schlechte Figur abgeben: schlechtere Noten – aber das ist kein Anhaltspunkt für die Wahrheit, die wir hier erlangen. Du erlangst sie, sogar ohne es selbst zu wissen. Wenn du im Schwimmbecken bist, bist du ganz nass geworden, nicht wahr? Du kannst nichts dagegen tun. So ist es auch hier. Sogar ohne dass du es weißt, bist du vom inneren Bewusstsein deiner Seele durchtränkt. Es ist etwas sehr Kostbares – ich würde sagen, das Kostbarste in der Welt. Und hierdurch, wenn du studierst, wenn du lernst – wenn du auf diese Weise herangehst, wirst du einen anderen Geschmack bekommen, ein anderes Interesse an Dingen.

Wenn ich mit Sri Aurobindo zusammen gelesen habe, maß er der Grammatik oder der Sprache nicht so viel Bedeutung bei – nur den grundlegendsten Grammatikregeln, die notwendig waren. Er brachte mich in Kontakt mit dem Leben, der lebendigen Persönlichkeit des Dichters, wie er war, was er in seinem Bewusstsein repräsentierte. Das war das zentrale Thema, denn ein wahrhaft großer Dichter zeichnet sich durch den Zustand seines Bewusstseins aus, und um sein Bewusstsein zu verstehen, musst du dich mit seinem Wesen identifizieren.

Amrita sagte dies auch immer, weil er die Gita von Sri Aurobindo lernte. Er konnte den Geist Krishnas und den Geist Arjunas immer spüren – ihre Beziehungen und die Atmosphäre, die sie schufen. Es ist nicht nur die Lektion in der Schrift, die Lehre, die wichtig ist –, das ist zweitrangig. Die Person ist das Wichtigste. Und der Person in dem Buch oder außerhalb davon kannst du dich nur mit deiner Seele, durch Liebe nähern. Nur die Seele kann lieben.

Ich glaube, ich erzählte dir einmal, dass jemand mich fragte: „Du sprichst von der Seele, aber wo ist sie?“

Ich sagte: „Sie ist sehr nahe bei dir, trotzdem glaubst du es nicht. Wenn du ruhig in dich hinein schaust, wirst du sehen, dass es viele gute Dinge in dir gibt, nicht nur schlechte Dinge –, ein kleines Bisschen vielleicht, Schattierungen oder Schatten vielleicht, aber du weißt, dieses ist ein guter Gedanke in mir, dieses ist ein edler Impuls, ein süßes Gefühl. Jeder hat alle diese Dinge, du musst sie nur erkennen. All das ist der Ausdruck der Seele in dir. Die schönen, die leuchtenden, die edlen Dinge, die dir, in deinem Bewusstsein von Zeit zu Zeit aufscheinen, sie kommen alle von deiner Seele.“ Sogar der größte Schurke hat solche Augenblicke. Du erinnerst dich an Lady Macbeth – bekannt als die grausamste Frau –, die über Duncan sagte: „Ich hätte ihn selbst getötet, aber er sah aus wie mein Vater.“ Nun, das ist das Gefühl, das sogar sie hatte. Deshalb lass uns nicht verzweifeln, nicht einmal der Schwächste von uns sollte verzweifeln. Zu allererst hat jeder eine Seele, und zweitens, haben wir die leuchtend starke Unterstützung der Mutter. Es ist die Natur Gottes, dass Er, sogar wenn du nicht an Ihn denkst, Er an dich denkt. Das ist wahr, sehr wahr, weil du Teil des Göttlichen bist. Nur musst du dich bewusst auf diesen Teil, diesen Anteil konzentrieren. Dann wird er allmählich wachsen.