Kapitel 11
In vollem Maße zu sein, ist die Absicht der Natur in uns
Worte Sri Aurobindos
Das einzige, das getan werden muss, ist, dass wir wir selbst werden; unser wahres Selbst ist aber das, was in unserem Innern ist, und über unser äußeres Selbst des Körpers, Lebens und Mentals hinauszukommen, ist die Voraussetzung dafür, dass wir dieses höchste Wesen werden, das unser wahres und göttliches Wesen ist, damit wir als dieses geoffenbarte Selbst handeln. Nur wenn wir im Innern wachsen und im Innern leben, können wir es finden; sobald dies geschehen ist, von dorther das spirituelle oder göttliche Mental, das entsprechende Leben und den entsprechenden Körper zu bilden und mit diesen Werkzeugen eine Welt zu schaffen, die die wahre Umgebung für eine göttliche Lebensweise ist –, dies ist das endgültige Ziel, das diese Kraft der Natur uns gewiesen hat. Es ist also die erste Notwendigkeit, dass das Individuum, jeder Einzelne, den Geist, die göttliche Wirklichkeit in seinem Innern, entdeckt und in seinem ganzen Wesen und Leben zum Ausdruck bringt. Ein göttliches Leben muss zuerst und vor allem ein inneres Leben sein; denn da das Äußere der Ausdruck dessen sein muss, was im Innern ist, kann es im äußeren Dasein keine Göttlichkeit geben, wenn es keine Vergöttlichung des inneren Wesens gibt. Die Göttlichkeit im Menschen wohnt verhüllt in seinem spirituellen Zentrum; für den Menschen kann es gar nicht möglich sein, über sich selbst hinauszukommen oder ein höheres Ziel seines Daseins zu verwirklichen, wenn es nicht in seinem Innern die Wirklichkeit eines ewigen Selbstes und des Geistes gibt.
Zu sein und in vollem Maße zu sein, ist die Absicht der Natur in uns; um aber in vollem Maße zu sein, müssen wir unseres eigenen Wesens völlig bewusst sein: Unbewusstheit, Halb-Bewusstheit oder eine mangelhafte Bewusstheit ist ein Wesenszustand, in dem wir nicht im Besitz unseres Selbsts ist; es ist zwar Dasein, aber nicht die Fülle des Wesens. Im ganzen und vollständig unseres Selbsts und der ganzen Wahrheit unseres Wesens inne zu sein, ist die notwendige Voraussetzung dafür, dass wir unser Dasein wahrhaft besitzen. Dieses Selbst-Innesein ist es, was wir unter spirituellem Wissen verstehen: die Essenz spirituellen Wissens ist ein inneres, aus dem Selbst seiendes Bewusstsein; sein ganzes Wirken von Wissen, eigentlich sein Wirken jeglicher Art muss dieses Bewusstsein sein, das sich jeweils formuliert. Alles andere Wissen ist ein Bewusstsein, das sein Selbst vergessen hat und nun danach strebt, wieder zum Bewusstsein seines Selbsts und dessen Inhalts zurückzukehren; es ist eine Unwissenheit des Selbsts, die sich bemüht, sich wieder zurückzuverwandeln in das Wissen des Selbsts.
Da aber Bewusstsein in sich die Kraft des Seins birgt, müssen wir, um in vollem Maße zu sein, die innere und integrale Kraft unseres Wesens haben; das bedeutet, dass wir in den Besitz der vollen Kraft unseres Selbsts und all ihrer Verwendung kommen soll. Es wäre ein nur verstümmeltes oder vermindertes Dasein, wenn wir bloß da sein würden, ohne dass wir die Kraft unseres Wesens besitzen, oder nur eine halbe oder mangelhafte Kraft von ihm hätten; es wäre bloßes Existieren, aber nicht die Fülle unseres Wesens. Es ist sicher möglich, nur statisch zu existieren, wobei die Kraft des Wesens in sich selbst gesammelt und unbeweglich ist; integrales Sein verlangt dagegen, dass wir sowohl in der Dynamik wie in der Statik des Wesens sind: Macht des Selbsts ist das Zeichen für die Göttlichkeit des Selbsts – Geist ohne Macht ist kein Geist. Wie das spirituelle Bewusstsein etwas Inneres und Selbst-Seiendes ist, muss aber auch diese Kraft unseres spirituellen Wesens etwas Innerstes sein, automatisch in ihrem Wirken, aus dem Selbst seiend, das Selbst zur Erfüllung bringend. Jedes Instrument, das es verwendet, muss ein Teil seiner selbst sein; ja, jede äußere Instrumentation, deren sich das spirituelle Bewusstsein bedient, muss zu einem Teil seiner selbst und zu einer Ausdrucksform seines Wesens gemacht werden. Die Kraft des Wesens in einer bewussten Handlung ist Wille; und alles, was der bewusste Wille des Geistes ist, sein Wille des Wesens und des Werdens, all das muss das ganze Dasein harmonisch zur Erfüllung bringen können. Jedes Wirken, jede Energie des Wirkens, die diese Souveränität nicht besitzt oder nicht Meister des Mechanismus ihres Wirkens ist, trägt durch diesen Mangel das Zeichen der Unvollkommenheit der Wesenskraft, der Zerteilung oder behindernden Aufspaltung des Bewusstseins, der Unvollständigkeit in der Manifestation des Wesens an sich.
Letztlich soll das Bewusstsein, um vollständig zu sein, die volle Seins-Seligkeit besitzen. Wesen ohne Seins-Seligkeit, ohne volle innige Freude am eigenen Selbst und an allen Dingen ist etwas Neutrales und Herabgemindertes; es ist ein Seiendes, aber nicht die Fülle des Seins. Auch diese Seligkeit soll eine innere, aus dem Selbst seiende, automatische sein; sie darf nicht von Dingen außerhalb des Selbsts abhängen: woran sie ihre tiefe Freude hat, das macht sie zu einem Teil ihrer selbst, sie hat ihre Freude daran als an einem Teil ihrer eigenen Universalität. Alle Un-Seligkeit, aller Schmerz und alles Leiden sind Zeichen von Unvollkommenheit, von Unvollständigkeit; sie entstehen aus einer Zerteilung des Wesens, aus einer Unvollständigkeit des Bewusstseins des Wesens, aus einer Unvollständigkeit der Kraft des Wesens. Im Wesen vollständig zu werden, im Bewusstsein des Wesens, in der Kraft des Wesens, in der Seligkeit des Wesens, und in dieser integrierten Vollständigkeit zu leben, ist die göttliche Lebensweise.
In vollem Maße zu sein, bedeutet aber weiter, dass wir allumfassend sind. Wenn wir innerhalb der Begrenzungen des kleinen beschränkten Ichs leben, existieren wir zwar auch, aber es ist eine unvollkommene Existenz: seiner wirklichen Natur nach bedeutet es ein Leben in einem unvollständigen Bewusstsein und einer unvollständigen Kraft und Seligkeit des Daseins. Wir sind dadurch weniger, als wir selbst eigentlich sind, und das unterwirft uns der Unwissenheit, Schwäche und dem Leiden: selbst wenn unsere Natur durch göttliche Zusammensetzung ihrer Art diese Dinge ausschließen könnte, würden wir doch nur in einem beschränkten Horizont des Daseins, in einem eingeengten Bewusstsein und in einer begrenzten Macht und Freude am Sein leben. Alles Wesen ist ein einziges Wesen und in der Fülle leben heißt, in vollem Maße all das zu sein, was ist. Im Wesen aller zu sein und alle in unser eigenes Wesen einzubeziehen, des Bewusstseins aller bewusst zu sein, mit unserer Kraft in die allumfassende Kraft integriert zu sein, alles Handeln und alle Erfahrung in unserem Innern mitzutragen und als das eigene Handeln und die eigene Erfahrung zu fühlen, alle Selbste als unser eigenes Selbst zu fühlen, alle Seins-Seligkeit als eigene Seins-Seligkeit zu empfinden, das ist die notwendige Voraussetzung für eine integrale göttliche Lebensweise.
Um aber so in Fülle und Freiheit unserer Universalität allumfassend sein zu können, müssen wir auch übernatürlich sein. Die spirituelle Fülle des Wesens ist Ewigkeit; wir besitzen nicht die Wirklichkeit des Selbsts und nicht die Fülle unseres spirituellen Seins, wenn wir nicht das Bewusstsein des zeitlos ewigen Wesens haben, wenn wir vom Körper, vom verkörperten Mental oder vom verkörperten Leben abhängig sind, wenn wir abhängig sind von dieser oder jener Welt, von dieser oder jener Bedingung des Wesens. Wir sind nur ein Eintagsgeschöpf, wenn wir nur als ein Selbst des Körpers leben oder nur unser Körper sind, ausgeliefert dem Tod, dem Begehren, Schmerz und Leiden, Verfall und Dekadenz. Es ist also erste Bedingung für eine göttliche Lebensweise, dass wir das Bewusstsein des Körpers transzendieren, über es hinauskommen, dass wir nicht im Körper oder durch den Körper festgehalten werden, dass wir vielmehr den Körper als Werkzeug behandeln, als eine mindere äußere Gestaltung aus dem Selbst. Eine zweite Bedingung ist, dass wir nicht ein der Unwissenheit und Bewusstseins-Beschränkung unterworfenes Mental bleiben, dass wir das Mental transzendieren und als Werkzeug behandeln, dass wir es als eine äußere Gestaltung des Selbsts beherrschen. Eine dritte Bedingung ist, dass wir durch das Selbst und durch den Geist sind, dass wir nicht vom Leben abhängig sind und uns mit ihm identifizieren, dass wir das Leben transzendieren, beherrschen und als Ausdruck und Instrumentation des Selbsts verwenden. Auch das körperliche Leben besitzt nicht sein Wesen vollständig, seiner Art gemäß, wenn das Bewusstsein nicht umfassender ist als der Körper und wenn es nicht sein physisches Einssein mit allem materiellen Dasein fühlt; auch das vitale Leben besitzt nicht seine Lebensfülle in ihrer Eigenart, wenn das Bewusstsein nicht über das begrenzte Spiel individueller Vitalität hinauskommt und das universale Leben als das ihm eigene ebenso fühlt wie sein Einssein mit allem Leben. Auch die Mentalität ist kein vollbewusstes Dasein, keine Aktivität ihrer Art, wenn man nicht über die individuellen mentalen Begrenzungen hinauskommt und das Einssein mit dem allumfassenden Mental und mit dem Mental aller Menschen fühlt und nicht seine Freude an der eigenen Bewusstseins-Vollständigkeit deshalb hat, weil sie in reicher Mannigfaltigkeit zur Erfüllung kommt. Wir sollen aber nicht nur die individuelle Formel, sondern auch die Formel des Universums transzendieren, denn nur so können beide, das individuelle und das universale Dasein, ihr wahres Wesen und vollkommene Harmonisierung finden; in ihrer äußeren Formulierung sind beides unvollständige Begriffe der Transzendenz, doch in ihrer Essenz sind sie vollständig, und nur indem das individuelle und das universale Bewusstsein dieses Wesenhaften bewusst werden, können sie zu ihrer eigenen Fülle und zur Freiheit der Wirklichkeit kommen. Sonst bleibt der Einzelne der kosmischen Bewegung und deren Reaktionen und Begrenzungen unterworfen und verfehlt dadurch seine vollkommene spirituelle Freiheit. Er muss in die höchste göttliche Wirklichkeit eingehen, er soll sein Einssein mit ihr fühlen, er soll in ihr leben, er soll ihr Geschöpf aus dem Selbst sein: sein Mental, sein Leben und seine Körperlichkeit sollen in Begriffe ihrer Übernatur umgewandelt werden; all seine Gedanken, alle seine Gefühle und Handlungen sollen durch die Übernatur bestimmt werden, als deren Selbst-Gestaltung existieren. Das alles kann in ihm nur vollkommen werden, wenn er sich aus der Unwissenheit in das Wissen und durch das Wissen in das höchste Bewusstsein mit seiner Dynamik und Seins-Seligkeit entwickelt hat; doch kann einiges Wesentliche dieser Dinge und ihre ausreichende Versorgung mit Instrumenten schon bei der ersten spirituellen Umwandlung geschehen, was dann im Leben der gnostischen Übernatur seine höchste Entfaltung findet.

Worte Sri Aurobindos
Gibt es eine Evolution in der materiellen Natur und ist sie eine Evolution des Wesens, deren zwei Schlüssel-Begriffe und Mächte Bewusstsein und Leben heißen, dann muss diese Fülle des Wesens, diese Fülle des Bewusstseins, diese Fülle des Lebens das Ziel der Entwicklung sein, dem wir zustreben und das sich auf einer früheren oder späteren Stufe unserer Bestimmung manifestieren wird. Das Selbst, der Geist, die aus der ersten Unbewusstheit von Leben und Materie sich enthüllende Wirklichkeit wird ihre vollständige Wahrheit von Wesen und Bewusstsein in diesem Leben hier und in dieser Materie entfalten. Die Wahrheit wird zu sich selbst zurückkehren – sollte es ihre Absicht sein, dass das Individuum ins Absolute heimkehrt, kann sie auch diese Rückkehr vollziehen – nicht durch eine Enttäuschung am Leben, sondern durch ihre spirituelle Vollkommenheit im Leben. Unsere Entwicklung in der Unwissenheit mit ihrer bunten Mischung von Freude und Schmerz bei unserer Entdeckung des Selbsts und der Welt, mit ihren halben Erfüllungen, ihrem ständigen Finden und Verlieren, ist nur ein erster Zustand. Sie muss unausweichlich zu einer Entwicklung im Wissen führen, einer Selbst-Findung und Selbst-Entfaltung des Geistes, eine Selbst-Enthüllung der Göttlichkeit in den Dingen in jener wahren Macht seiner selbst in einer Natur, die für uns jetzt noch die Übernatur ist.

… eine Künstler-Gottheit hier
Gestaltet stets sich neu in göttlichere Form,
Nicht enden wollend
Bis alles vollbracht ist, wofür die Sterne geschaffen wurden,
Bis das Herz Gott entdeckt
Und die Seele sich selber kennt. Und sogar dann
Gibt es kein Ende.
– Sri Aurobindo
