Kapitel 11
Die Entdeckung der Seele – Die Voraussetzungen
Worte Sri Aurobindos
Die Verwirklichung des seelischen Wesens, sein Erwachen und Hervortreten hängen hauptsächlich davon ab, inwieweit man eine persönliche Beziehung zum Göttlichen entwickeln kann1, eine Beziehung der bhakti, der Liebe, des Vertrauens und Selbstgebens, inwieweit man die Beharrlichkeiten des trennenden und rechthaberischen mentalen, vitalen und physischen Egos zurückweisen kann.

Worte Sri Aurobindos
Wenn das seelische Wesen erwacht ist, gibt es dir die wahre bhakti für Gott oder den Guru. Diese bhakti ist durchaus verschieden von der mentalen oder vitalen bhakti.
Man mag mit dem Verstand die intellektuelle oder spirituelle Größe des Gurus bewundern oder schätzen – man mag ihm folgen und seine Gebote mental annehmen. Es ist aber nur etwas Mentales; es bringt die Sache nicht viel weiter. Natürlich schadet es nichts, auch das zu haben. Doch das allein öffnet noch nicht die Gesamtheit des inneren Wesens. Es wird lediglich ein mentaler Kontakt hergestellt.
Die vitale bhakti fordert und fordert. Sie auferlegt ihre eigenen Vorbehalte. Sie gibt sich Gott hin, aber bedingt. Sie sagt zu Gott: „Du bist groß, ich bete dich an, und nun befriedige mir diesen Wunsch oder jenen Ehrgeiz, mache mich groß, mache einen großen Sadhak, einen großen Yogi aus mir und so weiter.“
Auch das unerleuchtete Mental gibt sich der Wahrheit hin, stellt aber seine eigenen Bedingungen. Es sagt zur Wahrheit: „Füge dich meinem Urteil und meiner Meinung“, und es verlangt von der Wahrheit, dass sie sich in die dem Mental eigenen Formen pressen lässt.
Auch das vitale Wesen besteht darauf, dass die Wahrheit sich seiner eigenen Kraft-Bewegung anpasst. Das vitale Wesen saugt an der Höheren Macht und zieht und saugt am vitalen Wesen des Gurus.
Die Hingabe von beiden (Mental und Vital) enthält eine arrière pensée (mentalen Vorbehalt).
Das seelische Wesen mit seiner bhakti ist aber anders. Es ist der wahren bhakti fähig, weil es in direkter Verbindung mit der Gottheit im Hintergrund steht. Seelische bhakti stellt keine Forderung und macht keine Vorbehalte. Sie findet Erfüllung in ihrem eigenen Sein. Das seelische Wesen weiß, wie es der Wahrheit in der rechten Weise zu gehorchen hat. Es gibt sich Gott oder dem Guru wahrhaft hin, und weil es sich wahrhaft aufgeben kann, kann es auch wahrhaft empfangen.

Worte Sri Aurobindos
…es ist das Wichtigste für dich, das seelische Feuer im Herzen zu entwickeln sowie das sehnsuchtsvolle Streben nach dem Hervortreten des seelischen Wesens als Lenker der Sadhana.

Worte Sri Aurobindos
Wenn das Begehren zurückgewiesen ist und nicht länger das Denken, Fühlen oder Tätigsein beherrscht, wenn eine stetige Aspiration nach einem vollkommenen, aufrichtigen Selbstgeben besteht, öffnet sich die Seele nach einer gewissen Zeit meist von selbst.

Worte Sri Aurobindos
Das seelische Wesen tritt bei den meisten Menschen nur langsam hervor, selbst nachdem sie die Sadhana aufgenommen haben. So vieles im Mental und Vital muss sich verändern und wieder anpassen, bevor die Seele gänzlich frei sein kann. Man hat zu warten, bis der notwendige Prozess weit genug gediehen ist, und sie ihren uralten Schleier aufreißen und hervortreten kann, um die menschliche Natur zu lenken.

Worte Sri Aurobindos
Das seelische Wesen kann sich nur dann ganz öffnen, wenn es dem Sadhaka gelungen ist, sich von der Einmischung vitaler Beweggründe in der Sadhana zu befreien, und er in der Lage ist, sich einfach und aufrichtig der Mutter darzubringen. Solange noch eine Neigung zu egoistischer Haltung besteht oder in Bezug auf den Beweggrund Unaufrichtigkeit herrscht, wenn der Yoga dem Druck vitaler Forderungen unterliegt, ausschließlich oder teilweise irgendeinen spirituellen oder sonstigen Ehrgeiz befriedigen soll, Eitelkeit, Stolz, Streben nach Macht, Ansehen und Einfluss auf andere, oder wenn unter dem Drängen vitaler Begehren, die befriedigt sein wollen, die Hilfe der Yoga-Kraft in Anspruch genommen wird, dann kann sich das seelische Wesen gar nicht oder nur wenig oder nur vorübergehend öffnen, und es schließt sich wieder, weil es von den vitalen Aktivitäten eingehüllt wird. Das Feuer der Seele erstickt im Qualm des Vitals. Genauso ist es, wenn das Mental im Yoga die Führung übernimmt und die innere Seele in den Hintergrund drängt oder wenn bhakti und andere Vorgänge in der Sadhana eine mehr vitale als seelische Form annehmen. Reinheit, schlichte Aufrichtigkeit und die Fähigkeit zu reiner, nicht durch Egoismus getrübter Selbst-Darbringung ohne Ansprüche oder Forderungen sind die Voraussetzung, unter der sich das seelische Wesen ganz öffnet.

Worte Sri Aurobindos
Um die Seele hervortreten zu lassen, muss man sich von Selbstsucht und Verlangen (die Grundlage der vitalen Gefühle) befreien – sie zumindest niemals akzeptieren.

Worte Sri Aurobindos
Jedes Mal wenn eine Läuterung der äußeren Natur stattfindet, wird es dem inneren Wesen eher möglich, sich zu enthüllen…

Worte Sri Aurobindos
Es ist richtig, dass das stete Feuer der Aspiration entzündet werden muss. Dieses Feuer aber ist das seelische Feuer und wird entfacht oder brennt oder wird größer in dem Maß, wie die Seele innerlich wächst – und für das Wachsen der Seele ist Ruhe notwendig. Aus diesem Grund haben wir dahingehend gewirkt, dass die Seele in dir wächst und dass auch die Ruhe zunimmt, und aus diesem Grund wollen wir, dass du auf das Wirken der Mutter in voller Geduld und vollem Vertrauen wartest. Sich immer der Mutter zu erinnern, immer mit dem gleichmäßigen, unentwegten Feuer im Inneren, bedeutet für sich genommen einen beachtlichen Fortschritt in der Sadhana und muss durch verschiedene Hilfsmittel – wie die Erfahrungen, die du jetzt hattest – vorbereitet werden. Bewahre daher ein unerschütterliches Vertrauen, und alles, was geschehen muss, wird geschehen.

1 Die Mutter hat in einem anderen Zusammenhang diese persönliche Beziehung zum Göttlichen mit folgenden Worten umschrieben: „Wenn wir es verstehen, in jeder Lage den Herrn zu rufen, um Ihn an allen Ereignissen unseres Lebens teilhaben zu lassen, wird das Leben zu Ananda, weil Er alles mit Seiner Wonne bedeckt!“ (Weiße Rosen, 11.4.1968)