Kapitel 10

Das Bewusstsein weiten

Worte der Mutter

Man muss sein Bewusstsein erweitern, wenn man kann.

Ich habe jemanden gekannt, der sein Bewusstsein erweitern wollte; er sagte, er habe ein Mittel gefunden, nämlich, sich nachts draußen auf den Rücken zu legen und die Sterne zu betrachten und zu versuchen, eins mit ihnen zu werden und in eine unendlich große Welt hineinzugehen und dann völlig den Sinn für die Proportion, für die Größenordnung der Erde und aller dieser Kleinigkeiten zu verlieren und weit wie der Himmel zu werden – man kann nicht sagen, so weit wie das Weltall, denn wir sehen ja nur ein ganz kleines Stück davon, sondern weit wie der Himmel mit allen Sternen. Und da, weißt du, während dieser Zeit fielen dann die kleinen Niederträchtigkeiten ab und er verstand die Dinge in einem sehr großen Maßstab.

Das ist eine gute Übung.

Worte der Mutter

Das Verfahren, die Verkrampfung zu lösen, kann im Mental, im Vital oder im Körper verschieden sein, ist aber grundsätzlich dasselbe. Wenn du dich einmal entkrampft hast, schaust du, ob die unangenehme Wirkung aufhört, … hält der Schmerz jedoch an … , so muss man, nach der Entspannung, anfangen, sich auszudehnen – man hat das Gefühl, sich auszudehnen. Es gibt viele Verfahren. Manchen liegt es, sich vorzustellen, dass sie auf einem Brett rücklings im Wasser treiben; dabei weiten und weiten sie sich, bis sie zur großen flüssigen Masse werden. Andere bemühen sich, sich mit dem Himmel und den Sternen übereinzustimmen, und sie machen sich weit und immer weiter, bis sie mit dem Himmel eins werden. Für wieder andere sind solche Bilder unnötig, sie können ihres Bewusstseins gewahr werden und dieses immer weiter ausdehnen, bis ins Grenzenlose. Man kann es ausdehnen, bis es so weit wird wie die Erde, ja sogar wie das Weltall. Wenn man das getan hat, wird man wahrhaft empfänglich. Wie gesagt, das ist eine Frage der Übung. Jedenfalls, für den Augenblick, … ist das Verfahren ganz dasselbe, man muss auf die Verkrampfung einwirken. Man kann über das Denken wirken, durch Herbeirufen von Frieden, von Ruhe (das Gefühl von Frieden beseitigt die Schwierigkeiten weitgehend): „Friede, Friede, Friede … Ruhe… Stille.“ Viele Beschwerden können so verschwinden, sogar physische, wie zum Beispiel all diese Spannungen im Sonnengeflecht, die so unangenehm sind und manchmal Übelkeit erregen, die einem das Gefühl geben, man ersticke, man könne nicht mehr Atem holen. Das Nervenzentrum ist dabei betroffen; es wird sehr leicht in Mitleidenschaft gezogen. Sobald etwas das Sonnengeflecht angreift, tut dieses not: „Ruhe … Ruhe … Ruhe“, immer ruhiger werden, bis die Spannung sich löst.

Auch im Denken selbst. Du liest beispielsweise etwas und stoßt auf einen Gedanken, den du nicht begreifst – er geht über deinen Horizont, du verstehst nichts, und in deinem Kopf liegt das wie ein Ziegelstein, und je mehr du versuchst zu verstehen, desto steiniger wird das, eine Verkrampfung, und wenn du darin verharrst, gibt es Kopfschmerz. Da gibt es nur eins: nicht mit den Worten kämpfen, sondern einfach so bleiben (Gebärde des Ausgebreitetseins, regungslos), entspannen, einfach sich weiten, weiter werden. Und nicht versuchen zu verstehen, vor allem das nicht – es hereinkommen lassen, ganz sachte, und sich lockern, sich entspannen, und dabei vergeht dein Kopfschmerz. Du denkst gar nicht mehr daran, und du wartest ein paar Tage, und dann gewahrst du von innen her: „Oh, wie klar ist das! Jetzt begreife ich, was ich nicht begriff.“ So einfach ist das. Wenn du ein Buch liest, das über deinen Verstand geht, wenn du Sätze vor dir hast, die du nicht begreifen kannst – du fühlst, dass im Kopf keine Entsprechung vorhanden ist –, nun, so tust du dies: du liest die Sache ein‚ zwei-, dreimal, dann bleibst du ruhig und machst den mentalen Geist still. Zwei Wochen später nimmst du dieselben Stellen wieder auf, und nun sind sie sonnenklar. Im Gehirn hat sich alles geordnet, die für das Verstehen fehlenden Elemente haben sich gebildet, alles hat sich nach und nach entwickelt, und du verstehst.

Worte der Mutter

…es gibt viele Methoden [das Bewusstsein weit zu machen].

Die einfachste ist, sich mit etwas, das weit ist, zu identifizieren. Zum Beispiel wenn du fühlst, dass du in vollständig engem und beschränktem Denken, Wollen, Bewusstsein eingeschlossen bist, dich wie eingekapselt empfindest, dann beginnst du, über etwas sehr Weites nachzudenken, wie zum Beispiel die Unermesslichkeit des Ozeans, und wenn dir wirklich gelingt, dir diesen Ozean vorzustellen, wie er sich weit, weit, weit, weit in alle Richtungen ausdehnt, so (die Mutter breitet ihre Arme aus), wie er, verglichen mit dir, sich so weit erstreckt, so weit, dass du das andere Ufer nicht sehen, du nirgends sein Ende erfassen kannst, weder hinten noch vorne, noch links oder rechts… er ist weit, weit, weit, weit … Daran denkst du, und dann fühlst du, dass du auf diesem Meer dahintreibst, so, und dann gibt es keine Grenzen… Das ist sehr leicht. Dann kannst du dein Bewusstsein ein wenig weiten.

Andere beginnen zum Beispiel damit, den Himmel zu betrachten. Und dann lassen sie in ihrer Vorstellung all jene Räume zwischen den Sternen erstehen und die ganze … diese ganze Unendlichkeit von Räumen, in welchen die Erde nur ein winziger Punkt ist und du auch nur ein winziger Punkt, kleiner als eine Ameise auf der Erde. Und so schaust du den Himmel an und fühlst, dass du in diesen endlosen Räumen zwischen den Wolken schwebst und dich immer mehr ausdehnst, um weiter und weiter zu werden. Manche Leute sind damit erfolgreich.

Es besteht auch die Möglichkeit zu versuchen, sich mit allen Dingen auf der Erde zu identifizieren. Zum Beispiel wenn du einer Sache in einer engen Sichtweise begegnest und durch den Standpunkt anderer gekränkt bist, musst du damit beginnen, dein Bewusstsein zu verschieben, es in andere zu verlagern und dich allmählich mit den ganzen verschiedenen Denkweisen all der anderen zu identifizieren zu versuchen. Das ist ein wenig … wie soll ich es ausdrücken? … gefährlich. Denn sich in das Denken und Wollen anderer hineinzuversetzen, bedeutet, sich mit einem Haufen Dummheit (Mutter lacht) und schlechtem Willen zu identifizieren, und das kann Folgen, die nicht sehr gut sind, mit sich bringen. Aber dennoch fällt dies manchen Leuten leichter. Wenn sie sich zum Beispiel mit jemandem in Unstimmigkeit befinden, bemühen sie sich, um ihr Bewusstsein zu erweitern, sich in dessen Lage zu versetzen und die Angelegenheit nicht mehr aus ihrem eigenen, sondern aus dessen Gesichtswinkel zu sehen. Das weitet das Bewusstsein, wenn auch nicht so umfangreich, wie die ersteren Methoden, von denen ich sprach, welche ganz unschuldig sind. Sie fügen dir keinen Schaden zu, sie nutzen dir sehr. Sie lassen dich ein Gefühl tiefen Friedens erleben.

Es gibt eine Menge intellektueller Wege, das Bewusstsein zu weiten. Diese habe ich alle in meinem Buch (Education, 1952) erklärt. Aber in jedem Fall, wenn du von etwas gelangweilt bist, wenn etwas für dich schmerzhaft ist oder sehr unangenehm, wenn du anfängst, an die Ewigkeit und die Unermesslichkeit des Weltraums zu denken, an alles, was früher gewesen ist, und alles, was später kommen wird, und daran, dass diese Sekunde in der Ewigkeit tatsächlich nur ein vorübergehender Atemzug ist und dass es ausgesprochen lächerlich erscheint wegen etwas aus der Fassung zu sein, das in der Ewigkeit der Zeit … man hat nicht einmal Zeit, dessen bewusst zu werden, es hat keinen Platz, keine Bedeutung, denn was ist eine Sekunde tatsächlich in der Ewigkeit? Wenn man erreichen kann, dessen gewahr zu werden, zu … wie soll ich sagen? … sich zu vergegenwärtigen, ein Bild von der kleinen Person zu machen, die man ist, auf der kleinen Erde, wo man ist, und der winzigen Sekunde im Bewusstsein, die dich im Moment verletzt oder dir unangenehm ist, nur das – was selbst nur eine Sekunde in deiner Existenz ist, und dass du selbst viele Dinge vorher warst und noch viele Dinge sein wirst, dass du das, was dich jetzt beeinträchtigt, in zehn Jahren vielleicht vollkommen vergessen hast, oder wenn du dich daran erinnerst, wirst du sagen: „Wie konnte ich dem irgendeine Bedeutung beimessen?“ … Wenn du dir das zuerst klar machst und dann deine kleine Person begreifst, die eine Sekunde in der Ewigkeit ist, nicht mal eine Sekunde, verschwindend kurz, der Bruchteil einer Sekunde in der Ewigkeit, dass sich die ganze Welt vorher entfaltet hat und sich weiter entfaltet, unbegrenzt – vorher, nachher und dass … nun, dann nimmst du plötzlich die äußerste Lächerlichkeit der Bedeutung wahr, die du dem beimisst, was dir zustößt… Tatsächlich fühlst du … zu welchem Ausmaß es absurd ist, seinem Leben irgendeine Bedeutung beizulegen, zu einem selbst und zu dem, was dir geschieht. Und in einer Zeit von drei Minuten, wenn du es richtig machst, ist alle Unstimmigkeit beiseite gefegt. Sogar ein sehr tiefer Schmerz kann ausgeräumt werden. Einfach eine Konzentration wie diese und sich selbst in die Unendlichkeit und Ewigkeit versetzen. Alles geht weg. Man geht geläutert daraus hervor. Man kann alle Bindungen los werden und sogar, betone ich, die größten Schmerzen – alles, in dieser Weise – wenn man es in der richtigen Weise zu tun versteht. Es holt dich sofort aus deinem kleinen Ego heraus.

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