Kapitel 1
Leben und Yoga
Worte Sri Aurobindos
Zwei notwendige Wirkensweisen der Natur spielen in den größeren Erscheinungsformen der menschlichen Aktivität stets eine Rolle, und zwar in unseren gewöhnlichen Tätigkeiten ebenso wie dort, wo wir nach außergewöhnlichen Sphären und nach Erfüllung streben, nach dem, was uns erhaben und göttlich erscheint. Erstens trachtet jede solche Gestaltung nach einer harmonisierten Vielfalt und Ganzheit, die sich wieder in verschiedene Kanäle einer besonderen Bemühung und Tendenz aufteilt, um sich danach erneut in einer umfassenderen und machtvolleren Synthese zu vereinigen. Zweitens ist es ein zwingendes Gesetz für eine wirkungsvolle Manifestation, sich in Formen hinein zu entfalten. Jede Wahrheit und Praxis jedoch, die zu starr ausgeformt wird, veraltet und verliert viel, wenn nicht alles, von ihrem Wert. Sie muss ständig durch frische Ströme des Geistes erneuert werden, die den toten oder sterbenden Träger zu neuem Leben erwecken und ihn umwandeln, wenn er ein neues Leben erwerben soll. Ständig wiedergeboren zu werden, ist die Voraussetzung für materielle Unsterblichkeit. Wir leben in einer Zeit, die in schweren Geburtswehen liegt. Alle Formen des Denkens und Handelns, die sich bislang als sehr zweckmäßig erwiesen haben oder insgeheim beharrlich festgehalten wurden, werden einer äußersten Prüfung unterworfen und erhalten so die Gelegenheit zu ihrer Wiedergeburt. Die Welt stellt sich heute als ein gewaltiger Kessel der Medea dar, in den alles, in Stücke zerschnitten, hineingeworfen, Experimenten unterzogen, zusammengefügt und immer wieder neu zusammengesetzt wird, damit es entweder zugrunde geht und das Material für neue Gestaltung liefert oder damit es zu einer neuen Daseinsbestimmung verjüngt und umgewandelt daraus hervorgeht. Der Yoga Indiens trägt in sich die kraftvolle Möglichkeit, eines dieser dynamischen Elemente im künftigen Leben der Menschheit zu werden. Seinem Wesen nach ist er eine spezielle Betätigung oder Formulierung gewisser starker Mächte der Natur. Er teilt sich darum in spezielle Richtungen und ist auf verschiedene Art formuliert. Er ist das Kind unvordenklicher Zeiten, das sich durch seine Vitalität und Wahrheit bis in unsere modernen Zeiten hinein erhalten hat. Jetzt taucht der Yoga aus seinen geheimen Schulen und asketischen Einsiedeleien, in die er sich geflüchtet hatte, wieder auf und sucht sich seinen Platz in der zukünftigen Gesamtsumme der lebendigen Entfaltung und Verwendung menschlicher Kräfte. Zuerst muss er aber sich selbst wieder entdecken. Er muss innerhalb dieser allgemeinen Wahrheit den eigenen tiefsten Wahrheitsgrund seines Wesens und jene unvergängliche Absicht der Natur, die er darstellt, herausbringen und durch den Wert dieser neuen Selbsterkenntnis und Selbsteinschätzung seine eigene, neu erworbene und umfassende Synthese entdecken. Wenn sich der Yoga so reorganisiert, wird er leichter und machtvoller in das neu gestaltete Leben der Menschen eingehen, das seine praktischen Methoden nach innen bis in deren geheimste Heiligtümer und empor bis in die höchsten Höhen ihrer Existenz und Persönlichkeit hinzuführen versprechen.
Bei rechter Betrachtung von Leben und Yoga erkennen wir, dass alles Leben bewusst oder unbewusst Yoga ist. Unter Yoga verstehen wir das methodische Bemühen, zur Selbstvollendung zu gelangen, indem wir alle Kräfte und Anlagen, die in unserem Wesen verborgen sind, zum Ausdruck bringen und unser individuelles Menschsein mit dem universalen und transzendenten Sein einen, das wir partiell im Menschen und im Kosmos offenbart sehen. Wenn wir hinter diese Erscheinungen schauen, erkennen wir, dass alles Leben ein ungeheurer Yoga der Natur ist, die ihre Vollkommenheit in immer umfassenderer Offenbarung ihrer Machtmöglichkeiten ausdrücken und sich mit ihrer eigenen göttlichen Wirklichkeit zur Einung bringen will. Im Menschen, ihrem Denker, erschafft sie sich auf der Erde zum ersten Mal das seines Selbsts bewusste Werkzeug und den Vollstrecker ihres Willens, wodurch dieser große Zweck rascher und machtvoller zustande gebracht werden kann. Man könnte mit den Worten des Swami Vivekananda den Yoga als ein Mittel auffassen, durch das wir unsere eigene Entwicklung in ein einziges Leben, in ein paar Jahre oder sogar in wenige Monate dieses körperlichen Daseins zusammenzudrängen vermögen. Demnach stellt ein gegebenes Yoga-System nur eine Auswahl oder eine Konzentration der allgemeinen Methoden der Natur in begrenzteren, aber kraftvolleren Formen der Intensität dar, durch die es jene allgemeinen Methoden ersetzt, die von der Großen Mutter bei ihrer gewaltig emporsteigenden Schöpfungsarbeit jetzt noch unexakt, weitläufig, in gemächlichen Bewegungen, mit einem sichtlich ungeheuren Verschleiß an Material und Energie, wenn auch unter Anwendung einer immer vollkommeneren Kombination, verwendet werden. Nur ein solches Verständnis des Yoga als einer Intensivierung aller Naturkräfte kann die Grundlage für eine gesunde rationale Synthese der Yoga-Methoden darstellen. Dann erscheint der Yoga nicht länger als etwas Mysteriöses und Abnormes, das keine Beziehung zu den gewöhnlichen Abläufen der Welt-Energie oder zu der Absicht hat, die sie in ihren beiden großen Bewegungen der subjektiven und objektiven Selbst-Erfüllung im Auge hat. Vielmehr offenbart sich der Yoga als die außergewöhnlich intensive Anwendung von Kräften, die die Natur bereits sichtbar machte oder fortschreitend in ihren weniger hervorragenden, aber allgemeineren Verfahrensweisen organisiert.
Die Methoden des Yoga stehen zu den herkömmlichen psychologischen Wirkensweisen des Menschen etwa im gleichen Verhältnis wie die wissenschaftliche Behandlung der Naturkraft der Elektrizität oder des Dampfes zu deren normaler praktischer Anwendung. Auch die Methoden des Yoga werden aufgrund eines Wissens gebildet, das durch regelmäßiges Experiment, praktische Analyse und ständige Prüfung des Resultats entwickelt und bestätigt wird. So hängt zum Beispiel der ganze Raja-Yoga von der Wahrnehmung und Erfahrung ab, dass wir unsere inneren Elemente, Kombinationen, Funktionen und Kräfte voneinander absondern oder sie auflösen, neu kombinieren und zu neuartigen, vorher unmöglichen Wirkensweisen bringen oder dass wir sie umwandeln und durch festgelegte innere Prozesse zu einer neuen allgemeinen Synthese zusammenfassen können. In ähnlicher Weise gründet sich der Hatha-Yoga auf die Wahrnehmung und Erfahrung, dass die vitalen Kräfte und Funktionen, denen unser Leben normalerweise unterworfen ist und deren gewöhnliche Abläufe festgelegt und unentbehrlich zu sein scheinen, gemeistert und ihre Prozesse umgewandelt oder aufgehoben werden können, so dass Resultate entstehen, die sonst unmöglich sind und jenen Menschen, die den inneren Grund ihres Zustandekommens nicht verstehen, als mirakulös erscheinen. Dieser Charakter fällt in einigen anderen Formen des Yoga weniger in die Augen, weil sie mehr intuitiv und weniger mechanisch sind. Sie stehen, wie der Bhakti-Yoga der Hingabe des Herzens, einer innigen Gottesliebe näher, oder sie führen zu einer erhabenen Unendlichkeit des Bewusstseins und Seins wie der Jnana-Yoga des Wissens. Aber auch sie nehmen ihren Ausgangspunkt in der Verwendung einer bestimmten Hauptbefähigung in uns mit Methoden und zu Zwecken, die bei der alltäglichen spontanen Wirkensweise der Natur nicht vorgesehen sind. Alle unter dem gemeinsamen Namen Yoga zusammengefassten Methoden sind spezielle psychologische Prozesse, die sich auf eine festgelegte Wahrheit der Natur gründen und aus unseren normalen Funktionen Mächte und Resultate entwickeln, die zwar immer latent vorhanden sind, doch in den gewöhnlichen Abläufen der Natur nicht leicht und nicht oft in Erscheinung treten.
Wie aber im physischen Wissen eine zu weitgehende Vervielfältigung der wissenschaftlichen Prozesse ihre Nachteile besitzt, da sie leicht eine alles beherrschende Verkünstelung unseres Lebens erzeugt, die unser natürliches menschliches Dasein unter einer Last mechanischer Dinge erdrückt, so dass wir gewisse Formen der Freiheit und Herrschaft um den Preis einer vermehrten Abhängigkeit erkaufen müssen, kann auch ein einseitiges Wertlegen auf Prozesse des Yoga und auf außergewöhnliche Resultate seine Nachteile haben und zu gewissen Verlusten führen. Dann hat der Yogin etwa die Tendenz, sich aus dem allen gemeinsamen Dasein zurückzuziehen, und er verliert seinen Stand in ihm: Lieber will er durch eine Verarmung in seinen menschlichen Betätigungen einen Reichtum des Geistes erkaufen, also die innere Freiheit durch ein äußeres Absterben. Wenn er Gott gewinnt, verliert er das Leben. Wenn er aber sein Mühen nach außen kehrt, um das Leben zu erobern, ist er in Gefahr, Gott zu verlieren. Darum beobachten wir in Indien, dass eine scharfe Unvereinbarkeit mit dem Leben in der Welt oder der spirituellen Entfaltung und Vervollkommnung geschaffen wurde. Obwohl die Tradition und das Ideal einer übergeordneten Harmonie zwischen der Anziehungskraft der Innenwelt und den Forderungen des äußeren Daseins aufrechterhalten bleibt, wird diese doch nur durch wenige Beispiele vorgelebt. Tatsächlich nimmt man an, dass ein Mensch, der seine Schau und Energie nach innen wendet und den Weg des Yoga geht, unvermeidlich dem großen Strom unseres kollektiven Daseins und dem weltlichen Bemühen der Menschheit verlorengeht. Diese Meinung hat sich so stark durchgesetzt und ist durch herrschende Weltanschauungen und Religionen so stark betont worden, dass die Flucht aus dem Leben jetzt nicht nur als die notwendige Voraussetzung für den Yoga, sondern auch als dessen allgemeines Ziel angesehen wird. Keine Synthese des Yoga kann aber befriedigen, die nicht zum Ziel hat, dass Gott und die Natur wieder in einem befreiten und vervollkommneten menschlichen Leben miteinander eins werden und sie in ihrer Methode die Harmonie unserer inneren und äußeren Wirkensweisen und Erfahrungen in einer göttlichen höchsten Vollendung beider nicht nur zulässt, sondern bewusst begünstigt. Der Mensch ist ja gerade jener Inbegriff und jenes Symbol eines höheren Daseins, das in die materielle Welt herabkam, damit hier das Niedere seine Gestalt umwandeln und die Natur des Höheren annehmen kann und sich das Höhere in den Gestaltungen des Niederen offenbart. Niemals darf es die unausweichliche Voraussetzung oder das ganze letzte Ziel seines höchsten Ringens oder seines machtvollsten Mittels für seine Selbst-Erfüllung sein, dass der Mensch dieses Leben missachtet, das ihm für die Verwirklichung jener Möglichkeit verliehen wurde. So etwas kann nur eine zeitweilige Notwendigkeit unter gewissen Bedingungen oder ein spezialisiertes äußerstes Bemühen sein, das dem Individuum auferlegt wird, damit es dadurch eine höhere allgemeine Entfaltungsmöglichkeit für die Menschheit vorbereitet. Das wahre ganze Ziel des Yoga, sein Zweck und Nutzen kann nur dann voll erfüllt werden, wenn der bewusste Yoga im Menschen ebenso wie der unbewusste Yoga in der Natur nach außen hin begrifflich mit dem Leben selbst zusammenfällt. Dann können wir wieder, im Blick auf den Weg und auf den Erfolg, in einem vollkommeneren, erleuchteteren Sinn sagen: „Alles Leben ist Yoga.“