Kapitel 1
Evolution und Seele
„Dieses erdhafte evolutionäre Wirken der Natur, von der Materie zum Mental und darüber hinaus, ist durch einen doppelten Prozess gekennzeichnet: einem äußeren, sichtbaren Vorgang der physischen Evolution mit der Geburt als seinem Mechanismus –, denn jede entwickelte Körperform, die ihre eigene entwickelte Bewusstseinsmacht beherbergt, wird durch Vererbung aufrechterhalten und in ununterbrochener Folge weitergeführt; gleichzeitig besteht ein unsichtbarer Prozess der Seelenevolution, deren Mechanismus die Wiedergeburt ist, in aufsteigenden Stufen von Form und Bewusstsein. Das erste als solches würde lediglich eine kosmische Evolution bedeuten; denn der Einzelne wäre ein schnell vergängliches Instrument, und die Rasse, als ein dauerhafter kollektiver Ausdruck, wäre die eigentliche Stuft in der progressiven Manifestation des kosmischen Bewohners, des universalen Spirits: Wiedergeburt ist eine unerlässliche Voraussetzung für eine lange Dauer und Evolution des individuellen Wesens im Erdendasein. Jede Stuft der kosmischen Manifestation, jede Form, die den innewohnenden Spirit beherbergen kann, wird durch die Wiedergeburt zu einem Hilfsmittel der individuellen Seele, der seelischen Wesenheit, um immer mehr ihres verborgenen Bewusstseins zu manifestieren; alles Leben wird zu einer Stuft in einem Sieg über die Materie durch ein weiteres Fortschreiten des Bewusstseins in ihr, was letzten Endes die Materie selbst zu einem Hilfsmittel für die volle Manifestation des Spirits machen wird.“ – SRI AUROBINDO (The Life Divine)
Das ist sehr schwer zu verstehen, liebe Mutter!
Ah! …
Wenn du die Erdgeschichte betrachtest, siehst du, dass alle Lebensformen nacheinander in einem allgemeinen Plan, einem allgemeinen Programm erschienen sind, und immer unter Hinzufügung einer neuen Vollkommenheit und eines größeren Bewusstseins. Nimm nur einmal die Tierformen, denn das ist leichter zu verstehen, sie sind die letzten vor dem Menschen: jede Tiergattung, die auftrat, war mit einer zusätzlichen Vollkommenheit in ihrer allgemeinen Natur ausgestattet – ich meine nicht in allen Einzelheiten – eine größere Perfektion als die vorhergehenden, und der krönende Gipfelpunkt des Aufstiegs war die menschliche Form, welche zur Zeit die geeignetste Form ist, um Bewusstsein zu manifestieren; das heißt, die menschliche Form auf ihrem Höhepunkt, dem Höhepunkt ihrer Möglichkeiten, vermag mehr Bewusstsein zu enthalten als alle vorhergehenden Tierformen.
Das ist einer der Wege der Evolution der Natur.
Sri Aurobindo sagte uns letzte Woche, dass diese Natur einer ansteigenden Weiterentwicklung folgt, um mehr und mehr das göttliche Bewusstsein zu manifestieren, das in allen Formen enthalten ist. So, mit jeder neuen Form, die sie hervorbringt, befähigt die Natur diese Form immer vollständiger den Spirit auszudrücken, den sie enthält. Aber wenn es so wäre, würde eine Form erscheinen, sich entwickeln, ihren höchsten Punkt erreichen, und eine andere Form würde ihr nachfolgen; die vorhergehenden hören nicht auf zu existieren, doch macht die einzelne Form keinen Fortschritt mehr. Der einzelne Hund oder Affe, zum Beispiel, gehört zu einer Spezies, die ihre eigene besondere Charakteristik hat; wenn der Affe oder der Mensch auf der Höhe seiner Möglichkeiten anlangt, das heißt, wenn ein menschliches Wesen der beste Typ der Menschheit wird, ist es zu Ende; das einzelne Wesen wird nicht weiter fortschreiten können. Es gehört zur menschlichen Spezies und wird weiterhin dazu gehören. Daher besteht vom Standpunkt der Erdgeschichte aus gesehen ein Fortschritt, denn jede Spezies stellt einen Fortschritt dar, verglichen mit der vorhergehenden Spezies; doch von Standpunkt des Individuums gibt es keinen weiteren Fortschritt: es wird geboren, folgt seiner Entwicklung, stirbt, und hört auf zu bestehen. Daher war es notwendig, ein anderes Mittel zu finden, um den Fortschritt des Einzelnen sicherzustellen; dieses war nicht ausreichend. Doch innerhalb des Individuums, das in jeder Form enthalten ist, besteht eine Anordnung von Bewusstsein, die näher und direkter unter dem Einfluss der inneren göttlichen Gegenwart steht, und die Form, die unter diesem Einfluss steht, diese gewisse innere Konzentration von Energie, hat ein Leben, das unabhängig von der physischen Form ist – es ist das, was wir im Allgemeinen die „Seele“ oder das „seelische Wesen“ nennen; und da es um das göttliche Zentrum angeordnet ist, hat es Anteil an der göttlichen Natur, die unsterblich, ewig ist. Der äußere Körper fällt ab, und dies bleibt in jeder Erfahrung, die es in jedem Leben hat, bestehen; und von Leben zu Leben findet ein Fortschritt statt, und es ist der Fortschritt des selben Individuums. Und diese Bewegung vervollständigt die andere, sodass statt einer Spezies, die sich im Verhältnis zu einer anderen weiterentwickelt, es das Individuum ist, das alle Stadien der Weiterentwicklung dieser Spezies durchläuft und sich weiterhin entwickeln kann, selbst wenn die Spezies die Grenze ihrer Möglichkeiten erreicht hat und dort verbleibt, oder aber aufhört zu existieren, je nachdem, aber sie kann nicht weitergehen; während das Individuum, dessen Leben von der rein stofflichen Form unabhängig ist, von einer Form zu anderen gehen und seine Weiterentwicklung unendlich fortsetzen kann. Das läuft auf eine doppelte Bewegung hinaus, die sich vervollständigt. Und daher hat jedes Individuum die Möglichkeit die höchste Verwirklichung zu erreichen, unabhängig von der Form, zu der es augenblicklich gehört.
DIE MUTTER (9:213)

In den vorangegangenen Stadien der Evolution hatte sich die erste Sorge und Bemühung der Natur auf eine Veränderung im physischen Aufbau zu richten, denn nur so konnte es eine Veränderung im Bewusstsein geben; dies war eine Notwendigkeit, auferlegt durch das Ungenügen der Bewusstseinskraft – bereits in der Formung begriffen –, um eine Veränderung im Körper zu erzielen. Doch im Menschen ist eine Umkehr möglich, ja, eigentlich unvermeidlich; denn es ist mit Hilfe seiner Bewusstseinsumbildung, und nicht mehr mit Hilfe eines neuen körperlichen Organismus als einer Instrumentation, dass die Evolution bewirkt werden kann und muss. In der inneren Realität der Dinge war eine Bewusstseinsveränderung immer die Hauptsache, Evolution hatte immer eine spirituelle Bedeutung und die physische Veränderung war nur instrumental; doch wurde diese Beziehung durch das abnormale Gleichgewicht zweier Faktoren verborgen, nämlich durch die Tatsache, dass der Körper der äußeren Unwissenheit das spirituelle Element, das bewusste Wesen, an Bedeutung überwiegt und verdunkelt. Doch ist einmal das Gleichgewicht hergestellt, ist es nicht länger die Veränderung des Körpers, die der Veränderung des Bewusstseins vorangehen muss; das Bewusstsein selbst wird durch seine Mutation erzwingen und bewirken, welche Mutation auch immer für den Körper nötig wird. Es sei hier bemerkt, dass das menschliche Mental bereits die Fähigkeit gezeigt hat, der Natur in der Evolution von neuen Pflanzen- und Tiertypen zu helfen; es [das Mental] hat neue Formen seiner Umwelt geschaffen und durch Wissen und Disziplin beträchtliche Veränderungen seiner eigenen Mentalität entwickelt. Es ist keine Unmöglichkeit, dass der Mensch die Natur bewusst unterstützt, auch in seiner eigenen spirituellen und physischen Evolution und Transformation. Der Trieb hierzu ist bereits vorhanden und teilweise wirksam, obgleich von der Oberflächenmentalität noch unvollständig verstanden und akzeptiert; doch eines Tages mag diese lernen, sich tiefer nach innen zu wenden und die Mittel, die geheime Energie, das geplante Wirken der inneren Bewusstseinskraft zu entdecken, welche die verborgene Wirklichkeit dessen ist, was wir Natur nennen.
Zu all diesen Rückschlüssen kann man selbst gelangen, indem man die äußeren Phänomene der Weiterentwicklung in der Natur beobachtet, ihre Oberflächen-Evolution des Wesens und Bewusstseins in der physischen Geburt und dem Körper. Doch da ist der andere, der unsichtbare Faktor, da ist die Wiedergeburt, der Fortschritt der Seele durch das stufenweise Aufsteigen des sich entwickelnden Daseins, und in den Stufen zu höheren und höheren Typen körperlicher und mentaler Instrumentation. In dieser Entwicklung ist die seelische Wesenheit noch verhüllt, selbst im Menschen, dem bewussten, mentalen Wesen, durch ihre Instrumente, durch Mental und Leben und Körper; sie ist unfähig, sich voll zu offenbaren, sie wird daran gehindert in den Vordergrund zu treten, wo sie deutlich als Meister ihrer Natur auftreten kann, und ist genötigt, sich einer Art Entscheidung durch die Instrumente zu unterwerfen, einer Unterwerfung des Purushas durch die Prakriti. Doch kann sich im Menschen der seelische Teil der Persönlichkeit mit viel größerer Schnelligkeit entwickeln als in der niederen Schöpfung, und eine Zeit mag kommen, wo die seelische Wesenheit nahe daran ist, hinter dem Schleier hervorzutreten und Meister ihrer Instrumente in der Natur zu werden. Dies aber bedeutet, dass der geheime, innewohnende Spirit, der Dämon, die innere Gottheit, im Begriff ist aufzutauchen; und sobald sie auftaucht, kann kaum bezweifelt werden, dass sie – wie es tatsächlich bereits im Mental der Fall ist, wenn es sich der inneren seelischen Einflussnahme unterwirft – eine göttlichere, eine spirituellere Existenz fordern wird. In der Natur des Erdenlebens, wo das Mental ein Instrument der Unwissenheit ist, kann dies allein durch eine Wandlung des Bewusstseins bewirkt werden, durch einen Übergang von einer Grundlage in Unwissenheit zu einer Grundlage im Wissen, von dem mentalen zu einem supramentalen Bewusstsein, einer supramentalen Instrumentation der Natur.
SRI AUROBINDO (19:843)

Hinsichtlich der aufwärtsgerichteten Evolution ist es richtiger von der seelischen Gegenwart als dem seelischen Wesen zu sprechen. Denn die seelische Gegenwart wird nach und nach zum seelischen Wesen. In jeder sich entwickelnden Form gibt es diese Gegenwart, sie ist aber nicht individualisiert. Sie ist etwas, das fähig ist, zu wachsen und der Bewegung der Evolution zu folgen. Sie ist nicht eine Herabkunft der Involution von oben. Sie wird fortschreitend um den Funken Göttlichen Bewusstseins geformt, welcher ausersehen ist, das Zentrum eines wachsenden Wesens zu werden, das, wenn es schließlich individualisiert ist, zum seelischen Wesen wird. Es ist dieser Funke, der fortdauert, und der alle Arten von Elementen für die Formung jener Individualität um sich sammelt; das wahre seelische Wesen wird erst dann geformt, wenn die seelische Personalität voll ausgewachsen und voll um den ewigen göttlichen Funken aufgebaut ist; es erreicht seinen Höhepunkt, seine gänzliche Erfüllung, wenn es sich mit einem Wesen oder einer Personalität von oben eint.
Unterhalb der menschlichen Ebene besteht im Allgemeinen kaum irgendeine individuelle Formierung – da ist nur diese Gegenwart, mehr oder weniger …
Natürlich kann man nicht sagen, dass jeder Mensch ein seelisches Wesen hat, genausowenig wie man es zurückweisen kann, es jedem Tier zuzugestehen. Viele Tiere, die einem Menschen nahe waren, haben einen Ansatz davon, während man häufig Menschen begegnet, die nichts als Scheusale zu sein scheinen … Doch im Großen und Ganzen beginnt die Seele im eigentlichen Sinn auf der menschlichen Stufe. Im Menschen allein besteht die Möglichkeit, dass das seelische Wesen zu seiner vollen Statur heranwächst, sogar so sehr, dass es sich schließlich mit einem herabkommenden Wesen verbinden und vereinen kann, einer Gottheit von oben.
DIE MUTTER (3:150)
