Kapitel 1
Ein Überblick über unser Ashram-Leben
In seinen ersten Tagen, ziemlich am Anfang, wir können jetzt sagen vor langer, langer Zeit, denn es ist nun fast ein halbes Jahrhundert her, entwickelte sich der Ashram gleich von Beginn an ziemlich spontan und zwangsläufig zu einem Gemeinschaftsleben. Zuallererst hörten die Personen auf, irgendwelchen persönlichen Besitz zu haben. Was immer sie besaßen, gehörte nicht ihnen selbst, sondern der Gruppe oder besser dem Meister der Gruppe, dem Guru, der Mutter und Sri Aurobindo. Was immer sie hatten, betrachteten sie als von der Mutter nur für den Gebrauch Erhaltenes. Sie waren keine Eigner oder Besitzer irgendwelcher Dinge: Um alles, was sie brauchten oder meinten zu brauchen, mussten sie fragen und die Mutter entschied, ob sie es haben sollten oder nicht. Es war ein frohes Hingeben der Besitztümer und ein dankbares Annehmen der Gaben. Man kann sich noch an die schöne Regung erinnern, die alle antrieb, welche das Glück hatten, zu der Zeit dort zu sein. Man wird an eine gleichartige Regung, obschon in einem anderen Bereich, erinnert, die von Tagore in seinen bekannten Zeilen beschrieben wurde:
Es gab ein Geraufe und Gerangel,
Eine große Eile, wer denn der Erste wäre
Sein Leben wegzuwerfen.
Nun, das ist ein Bild, über das man nachdenken sollte. Hier ist jemand, der seinen Koffer, seine Reisetasche oder Portemonnaie bei sich trägt und es der Mutter gibt, alle seine Besitztümer vor ihr offenlegt und sie als ihre Gabe von ihr zurückbekommt. Sie hat nichts als überflüssig oder unnötig weggenommen! Es war uns überlassen zu entscheiden, was wirklich notwendig, und was ein Luxus war. Wir mussten aufrichtig sein. Sie war die Großzügigkeit selbst.
Das Leben jedes Einzelnen war direkt mit der Mutter verbunden. Die Beziehung zwischen Individuen gründete auf der Beziehung, die jeder zur Mutter hatte. Sie hing nicht vom eigenen Mögen oder Nicht-Mögen, eigener Anziehung oder Abneigung ab, sondern wurde durch die Erfordernisse des von der Mutter arrangierten Gemeinschaftslebens bedingt.
Aus zwei Gründen war so ein Leben möglich: einem physischen und einem psychologischen Grund. Der physische Grund war, dass die Anzahl der Leute, die den Ashram bildeten, sehr klein war. Statt der zweitausend oder mehr, die wir heute sind, gab es zu jener Zeit (der Zeit, von der ich spreche) kaum fünfzig. Und es gab keine Kinder. Und von den Männern und Frauen wurden nur jene zugelassen, die einen wirklichen Ruf zum spirituellen Leben hatten; nur sie wurden von der Mutter und Sri Aurobindo ausgewählt und durften hier leben. Und hier ist der natürliche psychologische Grund: es war eine ausgewählte Gruppe, die schon ein inneres Leben und spirituelles Streben hatte, deshalb waren sie auf ein Leben der Überantwortung und Selbst-Hingabe, des Gehorsams und der Treue zum Guru vorbereitet. Sie kamen nicht ahnungslos, ohne etwas von den grundlegenden Elementen des spirituellen Lebens zu wissen.
Die Arbeit, die Mutter dann tun konnte und tat, hat sie selbst beschrieben und uns erklärt. Es war die Schaffung einer Welt – eines Bereichs wenigstens – von höherem Bewusstsein, in dem jeder mit einem genügend entwickelten Seelen-Wesen, der daran teilnahm, seinen eigenen Platz hatte. Dieses Wesen konnte sie mit einem Wesen der höheren Ebene verbinden oder vernetzen – einem Gegenüber, einer Über-Seele sozusagen für jede Seele. Es war eine Art Herabkunft, eine feinstoffliche Inkarnation der Götter auf der gehobenen und verfeinerten menschlichen Ebene, die die Mutter ermöglichte oder bewirkte.
Wir können anmerken, dass der Boden schon vorbereitet war durch die Herabkunft am 24. November 1926, die Herabkunft des Obermentals oder Krishna-Bewusstseins in Sri Aurobindos Körper-Bewusstsein, welches sich von hier in die allgemeine Erdatmosphäre ausbreitete und ihr natürlicher und dauernder Besitz wurde.
Aber an einem Punkt machte Sri Aurobindo dann eine Beobachtung, die ein Halt! bedeutete. Die Mutter berichtet uns die Geschichte auf eine lustige Art. Eines Tages sagte Sri Aurobindo zur Mutter: „Was Du tust, ist sehr schön und sehr großartig. Es wird Dir einen Namen verschaffen und Dich berühmt machen, Du wirst weltberühmt werden und Deine Arbeit ein Wunderwerk. Es wird ein großer Erfolg werden.“ Nun, das hat gereicht. Mutter ließ die ganze Sache fallen. Die neue Schöpfung verschwand gewissermaßen in einem Moment, es war ein Pralaya. Die Götter zogen sich zurück, wir kamen mit einem Bums wieder auf die Erde zurück – herunter auf die Erde, Erde zu Erde. Wir sind immer noch dort und krabbeln – ich hoffe vorwärts – so gut wir können.
Dieser Versuch der Mutter, eine leuchtende Welt auf einer höheren Sphäre des Mentals zu erschaffen, konnte nicht gänzlich realisiert werden, weil die Grundlagen nicht richtig vorbereitet, die Fundamente nicht stabil waren. Jedes höhere Bauwerk des Mentals und des Obermentals muss auf dem vitalen Wesen und physischen Leben des Menschen aufgebaut sein. Die neue Schöpfung ließ diese tatsächlichen Grundlagen außer Acht, deshalb mussten wir für den Moment die höhere Verwirklichung vergessen und wieder in diese dunkleren Regionen herunterkommen und hier eine gründliche Reinigung vornehmen. Die Bereiche des vitalen und physischen Bewusstseins sind, wie wir alle wissen, voller menschlicher Verfehlungen und gefährlicher Komplikationen. Man musste die Himmel verlassen, auf die niederen Ebenen herunterkommen und die wesentlichen Probleme hier angehen, deren Lösung allein ein starkes Fundament für die letztendliche Verwirklichung, die höchste Transformation legen konnte. Man musste der ganzen Wirklichkeit hier ins Auge sehen und sie meistern, bevor man an einen himmlischen Aufstieg denken konnte. So wurden wir alle wieder gewöhnliche Menschen mit gewöhnlichen Schwächen und vielleicht einem Funken Aspiration. Dies war die uns allen gestellte Aufgabe – uns durchzukämpfen und hier unten siegreich zu sein. Der Schauplatz änderte sich völlig. Ein Mitsommernachtstraum wandelte sich fast zu einer düsteren Hamlet-Tragödie.
Das erste Anzeichen der Rückkehr, der Wiederaufnahme des Lebens, wie es ist, war eine Wiederbehauptung des Individuums, der Freiheit des Einzelnen. Wegen der zunehmenden Mitgliederzahl und des Einmarsches von Kindern, konnte die frühere Gestalt des Ashrams nicht länger bestehen bleiben. Die bereitwillige Hingabe der Persönlichkeit ist eine Lektion, die erarbeitet und gelernt werden muss: Sie ist nicht einfach ein Geschenk Gottes für die Vielen. Die Vielen müssen wachsen, Stufe um Stufe, mit Mühe und durch Schwierigkeiten, und langsam in die Mysterien der höheren Verwirklichung von Überantwortung und Selbst-Hingabe geleitet werden. Und hierfür ist Unabhängigkeit, Freiheit der erste Schritt. Aber wenn das Herabsteigen erst einmal beginnt, lässt es kein Anhalten zu; es wird zu einem Hinabgleiten, einem fortdauernden Sinkflug, bis du den untersten Felsengrund des Tals der Tränen erreichst. Der römische Dichter sprach über den leichten Abstieg von den Klippen zum Fluss hinunter: Facilis descensus Averni. Leicht ist der Abstieg zum Avernus. (Vergil: Aeneas, II, 126)
Die angestrebte Verwirklichung verlangt einen umfassenden Wandel, eine integrale Transformation; sie gibt sich nicht mit einem Teilerfolg, einer Verwirklichung auf nur einer Ebene, in nur einem Teil des Wesens zufrieden. Deshalb gibt es ein globales Beben. Nichts darf unbemerkt in seinem alten Zustand verbleiben, alle Dinge müssen hervorkommen und sich dem Licht aussetzen. Deshalb die ganze Dunkelheit. Alle Unreinheiten, Unvollkommenheiten und Widerwärtigkeiten zeigen sich, – die Graswurzeln, wie sie es nennen, die ausgerissen, und der Boden, der gründlich gepflügt und für die neue Saat vorbereitet werden muss. Es ist eine schwierige Zeit. Die heldenhafte Seele muss sie ertragen und durchhalten, wissen, was geschieht und mutig vorwärtsgehen.
Ich sprach vom Gemeinschaftsideal, das anfangs bei uns galt; es brach in Stücke. Individualismus hob seinen schauerlichen Kopf mit allen unvermeidlichen Konsequenzen: Egoismus herrschte unkontrolliert; statt zu Unterordnung, Hingabe und Gehorsam führte Freiraum zu kompletter Ungebundenheit, Freiheit zu Freibrief.
Wie den Individuen wurde Solidargemeinschaften (in puncto Arbeit und Unternehmen) die Freiheit gegeben, unabhängig zu wachsen oder auch nicht zu wachsen. Jede Gruppe oder Abteilung, jedes Unternehmen versuchte, sich nur auf sich selbst zu stützen, seine eigene persönliche Ausstattung zu beschaffen und seine Ressourcen zu sichern. Ihre Gewinne gehörten ihnen, und natürlich konnten die Verluste nur größer sein als die Gewinne. Der wirkliche Gewinn war vielleicht die Erfahrung. Die Erfahrung sollte dazu dienen, das Bewusstsein zu entwickeln, und man hofft, dass das Bewusstsein einen Gewinn davongetragen hat.
Die Freiheit, die Dezentralisierung oder das Abrücken von Kontrolle durch das Zentrum ging so weit, dass sie fast einen wirklichen Bruch zwischen den Gruppen und dem Zentrum verursachten; dieselbe Tendenz können wir heute übrigens im Spiel der Weltpolitik beobachten.
Die Glieder erklärten ihre Unabhängigkeit und arbeiteten und kämpften um diese Unabhängigkeit, aber das konnte nur auf Kosten des Herzens gehen. Das Golgatha des Göttlichen lag genau hier: Es beruht auf diesem Gefühl der Trennung und einer individuellen, exklusiven Eigenexistenz in seinen Kindern, dem Spross seines eigenen Körpers. Die Teile des kosmischen Körpers des Göttlichen in der Unwissenheit sind tatsächlich unwissend, und die Kraft, die sie treibt, zusammen zu sein, ist offenbar die aufgezwungene Fessel der Unwissenheit. Äußerlich scheinen sie auf eine unvermeidliche Desintegration und ein unvermeidliches Chaos hinzudrängen.
Aber in Wirklichkeit beherbergt diese Bewegung der Streuung aus Schranken hinaus, einer Flucht vom Zentrum fort, eine umgekehrte Bewegung in sich, eine selbst-bewusste Wiederannäherung an das eine zentrale Bewusstsein, das in allen und gleichzeitig alles ist. Dies ist eine Zwischenstufe, auf der die Mängel und Unvollkommenheiten der Schöpfung, die falschen Kräfte, welche der ursprünglichen Unwissenheit und Trennung entsprangen und zu ihr gehörten, aufgespürt und bearbeitet werden mussten. Sie durften nicht ewig schlummern. Deswegen erhoben und zeigten sie sich, damit das Licht sich um sie kümmert und sie schluckt.
Man erinnert sich an die Legende des vedischen Rishis Agastya und seiner Gemahlin, die einst versuchten, eine neue und bessere Schöpfung ins Leben zu rufen. Sie unternahmen eine gewaltige übermenschliche Anstrengung, um die Wurzeln des Bösen auf der Erde zu entdecken: Sie gruben sie um, öffneten ihre Eingeweide, gingen tiefer und tiefer durch Schichten um Schichten sich widersetzender Dunkelheit, bis sie den eigentlichen Urgrund der Nacht erreichten. Dann brachten sie mit sich ein Licht dort hinein, das eine Umkehrung des Bewusstseins hervorrufen und Dunkelheit in strahlenden Glanz verwandeln konnte.
Die niedere Ebene des Vitals und Physischen ist eine Masse unwissender Natur (Prakriti), alles bewegt sich hilflos und mechanisch umeinander, miteinander unauflösbar an ein erbarmungsloses Schicksal gebunden. Dieser Bereich steht auf dem Felsen äußersten Nichtbewusstseins, welches die eigentliche Basis und den Stoff dieser Ebene bildet. Bewusstsein, das bewusste Wesen, muss herabkommen und dort eindringen, den harten Block träger Materie zerbrechen, seine Myriaden verschiedener Teilchen zerschlagen, zerstreuen und wegschleudern und sie in Partikel aus Licht und Bewusstsein verwandeln. Diese ungebundenen Funken, die Erstgeborenen des Bewusstseins, wurden anfangs unberechenbare, unkontrollierte bewusste Teilchen. Sie waren frei, kämpften aber gegeneinander, jedes in seinem zentralistischen Bewusstsein. Doch dies ist der Weg zu einem reineren, höheren, weiteren und integrierenden Bewusstsein. Während das Bewusstsein arbeitet und sich entwickelt, werden die Schlacken, der Grieß weggeblasen, und es wirkt auf ein klareres Licht und ein harmonisches Zusammenweben aller Teilelemente hin.
Wir befinden uns so in einer Übergangsphase; es ist eine Übergangsherrschaft mit vielen Schwierigkeiten, die aber gleichzeitig große Möglichkeiten darstellen. Dieser Kreuzweg ist nicht bloß eine Passage voller Schmerz und Leid; er ist ein Fegefeuer, nämlich eine Zone, ein Prozess, in dem sich das Wesen und Bewusstsein reinigt. Es streift seine Schuppen und seine alte Haut ab und wird im Laufe der Zeit in einem verjüngten Körper und einer harmonisierten Fassung hervorkommen. Das verlorene Paradies wird eines Tages wiedererlangt werden und das vervollkommnete zurückgewonnene Paradies sein fester Besitz sein.
Veröffentlicht im November 1973
