Kapitel 1
Die Theorie des Mantras
Das Mantra – ein Wort von Macht und Licht
Worte Sri Aurobindos
Das Mantra, wie ich es in The Future Poetry zu erläutern versucht habe, ist ein Wort von Macht und Licht, das aus der Inspiration des Obermentals oder einer sehr hohen Ebene der Intuition stammt. Seine Kennzeichen sind eine Sprache, die unendlich viel mehr vermittelt, als der bloße äußere Wortsinn zu sagen scheint, ein Rhythmus, der mehr noch ausdrückt als die Sprache, der aus dem Unendlichen geboren wird und dorthin entschwindet, und das Vermögen, nicht nur die mentalen, vitalen oder physischen Inhalte oder Hinweise und Beschreibungen des Gesagten, sondern seine Bedeutung und Gestalt in einem grundlegenden und ursprünglichen Bewusstsein mitzuteilen, das hinter diesen allen und größer ist.

Die drei höchsten Intensitäten dichterischer Sprache
Worte Sri Aurobindos
Das Mantra, dichterischer Ausdruck der tiefsten spirituellen Wirklichkeit, ist nur möglich, wenn drei höchste Intensitäten dichterischer Sprache zusammenkommen und untrennbar eins werden: eine höchste Intensität an rhythmischer Bewegung, eine höchste Intensität an ineinander verwobener verbaler Form und Gedankensubstanz, des Stils also, sowie eine höchste Intensität an Wahrheitsschau der Seele. Alle große Dichtung entsteht durch Einklang dieser drei Elemente. Das Unzulängliche des einen oder anderen bewirkt die Disharmonien im Werk auch der größten Dichter, und das Versagen eines dieser Elemente ist der Grund für ihr gelegentliches Scheitern, für die Schlacken in ihrem Werk, die Sonnenflecken. Erst auf einer bestimmten höchsten Stufe der verschmolzenen Intensitäten wird das Mantra möglich.

Das Mantra – ein göttlich beladenes rhythmisches Wort
Worte Sri Aurobindos
Das Mantra ist in seiner Substanz oder Form keine poetische Proklamation von philosophischen Wahrheiten, sondern eine rhythmische Offenbarung oder Intuition, die sich aus der Schau der Seele von Gott und Natur und von ihr selbst und der Welt und der inneren Wahrheit all dessen – verborgen dem äußeren Auge – ergibt, das sie bewohnt, der Geheimnisse ihres Lebens und Seins.

Worte Sri Aurobindos
Das Mantra ist, mit anderen Worten, ein direktes und äußerst erhöhtes, ein intensivstes und höchst göttlich beladenes rhythmisches Wort, das eine intuitive und offenbarende Inspiration verkörpert und das Mental mit der Schau und der Gegenwart des ureigenen Selbstes beseelt, der innersten Wirklichkeit der Dinge, mit ihrer Wahrheit und ihren göttlichen Seelenformen, den Gottheiten, die aus der lebendigen Wahrheit geboren werden. Oder, sagen wir, es ist eine höchste rhythmische Sprache, die alles erfasst, was endlich ist, und in es das Licht und die Stimme seines eigenen Unendlichen hereinbringt.

Das Mantra – die höchste Kraft der Sprache
Worte Sri Aurobindos
Ein Höchstes, ein Absolutes ihrer selbst, ein Hinausstreben zu einem Unendlichen und Äußersten, ein letzter Punkt der Vollkommenheit ihrer eigenen Möglichkeiten ist das, wohin alle Tätigkeit der Natur in ihren unbewussten Formationen intuitiv neigt, und wenn sie an jenem Punkt angelangt ist, hat sie ihre Existenz dem Geist rechtfertigt, der sie geschaffen hat, und den verborgenen schöpferischen Willen im Inneren erfüllt. Sprache, das ausdrückende Wort, hat einen solchen Gipfel oder ein solches Absolutes, eine Vollkommenheit, die der Stempel des Unendlichen auf ihren endlichen Möglichkeiten ist und ihres Schöpfers Siegel auf ihr. Diesem Absoluten des ausdrückenden Wortes kann man jenen Namen geben, den die inspirierten Sänger des Veda dafür fanden: Mantra. Insbesondere Dichtung brauchte zu ihrem vervollkommneten Ausdruck in den Hymnen des Veda diesen Begriff. Er ist jedoch nicht auf diese Bedeutung beschränkt, denn er ist auf alle Sprache ausgeweitet, die eine höchste oder eine absolute Kraft hat. Das Mantra ist das Wort, das die Gottheit oder die Kraft der Gottheit in sich trägt, das sie in das Bewusstsein bringen und samt ihren Funktionen dort festigen, dort das Erschauern des Unendlichen erwecken, die Kraft von etwas Absolutem, das Wunder der höchsten Äußerung verewigen kann. Diese höchste Kraft der Sprache und besonders poetischer Sprache müssen wir hier zum Ziel unserer Untersuchung machen und – wenn wir können – ihr Geheimnis entdecken, den Strom der Dichtung als einen langen Lauf der Bemühung menschlicher Sprache betrachten, diese höchste Kraft zu finden und die größere Verallgemeinerung ihrer Gegenwart und ihrer Kraft als künftiges Zeichen eines schließlichen Aufstiegs zu einer letztlichen Evolution als dichterisches Bewusstsein zur Eroberung ihrer höchsten Gipfel.

Das Mantra – eine gestaltende und erhellende Macht
Worte Sri Aurobindos
Weder der Verstand, die Vorstellung noch das Ohr sind die wahren oder zumindest die tiefsten oder höchsten Empfänger der poetischen Freude, ebenso wie sie nicht ihre wahren oder höchsten Schöpfer sind. Sie sind nur ihre Kanäle und Instrumente: Der wahre Schöpfer, der wahre Hörer ist die Seele. Je schneller und transparenter die anderen Instanzen ihr Werk der Übermittlung tun, je weniger sie auf ihrem separaten Anspruch auf Befriedigung bestehen, je direkter also das Wort die Seele erreicht und tief in sie sinkt, desto größer die Dichtung. Daher hat Dichtung nicht wirklich ihr Werk vollbracht, zumindest nicht ihr höchstes, bis sie die Freude des Instruments erhöht und in die tiefere Wonne der Seele umgewandelt hat. Ein göttliches Ananda1, eine interpretative, schöpferische, offenbarende, gestaltende Wonne – man könnte fast sagen, eine umgekehrte Widerspiegelung der Freude, die die universale Seele bei ihrer großen Freisetzung von Energie empfand, als sie die spirituelle Wahrheit, die umfassende interpretative Idee, das Leben, die Kraft, das Gefühl der Dinge, versammelt in einer ursprünglichen schöpferischen Vision, in die rhythmischen Formen des Universums hinaustönen ließ –, eine solche spirituelle Freude ist jene, welche die Seele des Dichters empfindet und die er, wenn er die menschlichen Schwierigkeiten seiner Aufgabe bewältigen kann, auch in all jene einströmen lassen kann, die bereit sind, sie zu empfangen. Diese Wonne ist nicht bloß ein göttlicher Zeitvertreib; sie ist eine große gestaltende und erhellende Macht.

Klang hat eine Kraft in der materiellen Welt
Worte der Mutter
Liebe Mutter, es gibt eine Blume, die du „Das schöpferische Wort“ [Das schöpferische Wort: Gehört nur dem Göttlichen, Leucanthemum x superbum. Weiß] genannt hast.
Ja.
Was bedeutet das?
Es ist das Wort, das erschafft.
Es gibt alle möglichen alten Überlieferungen, alte hinduistische Überlieferungen, alte chaldäische Überlieferungen, in denen das Göttliche in Form des Schöpfers, das heißt unter Seinem Aspekt als Schöpfer, ein Wort ausspricht, das die Macht hat zu erschaffen. Also, das ist es … und das ist der Ursprung des Mantras. Das Mantra ist das ausgesprochene Wort, das eine schöpferische Kraft hat. Man macht eine Anrufung, und auf die Anrufung kommt eine Antwort, oder man verrichtet ein Gebet, und das Gebet wird erhört. Das ist das Wort, das im Klang … es ist nicht nur die Idee, sondern im Klang liegt eine schöpferische Kraft. Das ist der Ursprung des Mantras.
In der indischen Mythologie ist Brahma der Schöpfergott, und ich denke, dass gerade das seine Macht war, die man mit dieser Blume, „Das schöpferische Wort“, symbolisiert hatte. Und wenn man damit in Berührung ist, haben die Worte, die ausgesprochen werden, eine Macht der Beschwörung oder der Erschaffung, der Gestaltung oder der Umgestaltung – das Wort … der Klang hat immer eine Macht. Der Klang hat viel mehr Macht, als die Leute denken. Das kann eine gute Macht sein, und es kann eine böse Macht sein. Er erzeugt Schwingungen, die eine nicht zu leugnende Wirkung haben. Es ist nicht so sehr die Idee als der Klang. Die Idee hat ihre eigene Macht, aber in ihrem eigenen Bereich. Dagegen hat der Klang eine Macht in der materiellen Welt.
Ich meine, ich habe dir das schon einmal erklärt: Ich hatte dir gesagt, dass man zum Beispiel Worte, die man beiläufig ausspricht, oft ohne zu überlegen und ohne ihnen Bedeutung beizumessen, für etwas sehr Gutes nutzen kann. Ich meine, ich sprach mit dir über das „Bonjour“, das „Guten Tag-Sagen“, nicht wahr? Wenn man sich begegnet und sich „Guten Tag“ sagt, machen die Leute das mechanisch und ohne nachzudenken. Legt man aber einen Willen hinein, eine Aspiration, um jemandem wirklich zu wünschen, dass sein Tag gut sei, dann hat diese Art, „Guten Tag“ zu sagen, eine enorme Wirkung. Sie wirkt mehr, als wenn man jemandem begegnet und nur einfach denkt: „Ach, ich hoffe, dass er einen guten Tag hat“, ohne dass man etwas sagt. Wenn man ihm mit dieser Hoffnung im Kopf auf eine bestimmte Art „Guten Tag“ sagt, wird es weitaus konkreter und wirksamer.
Es ist übrigens dasselbe mit den Verwünschungen oder wenn man zornig wird und den Leuten böse Sachen sagt. Das kann ihnen genauso schaden, als wenn du ihnen eine Ohrfeige gibst, und manchmal sogar noch mehr. Sehr sensible Menschen können sich dabei den Magen verderben oder Herzklopfen bekommen, weil du eine böse Kraft hineinlegt hast, die eine zerstörerische Macht besitzt.
Es ist ganz und gar nicht gleichgültig, wie man spricht. Natürlich hängt es im hohen Maß von der inneren Kraft eines jeden ab. Leute, die keine Kraft und kein Bewusstsein haben, können nicht viel ausrichten – außer sie wenden materielle Mittel an. Doch je stärker man ist – vor allem, wenn man ein machtvolles Vital besitzt –, desto größer muss die Kontrolle über das sein, was man sagt, ansonsten kann man viel Schaden anrichten, ohne es zu wollen, ohne es zu wissen, aus Unwissenheit.

Die Macht des Wortes wirksam machen
Worte der Mutter
Es scheint sinnlos, deine Aufmerksamkeit auf die vielen nutzlosen Worte zu lenken, die täglich geäußert werden; dieses Übel ist allgemein bekannt, obwohl nur sehr wenige Menschen daran denken, es zu ändern.
Aber es gibt noch viele andere Worte, die unnötig gesprochen werden. Das heißt, wir haben im Laufe des Tages oft die Möglichkeit, einen hilfreichen Wunsch zu äußern, indem wir das eine oder andere Wort aussprechen, vorausgesetzt, wir wissen, wie wir den angemessenen Gedanken hinter die Worte stellen können.
Aber allzu oft verpassen wir die Gelegenheit, eine wohltuende mentale Atmosphäre um die uns bekannten Menschen herum zu schaffen und ihnen so wirklich zu helfen. Es wäre sehr nützlich, dies Versäumnis zu beheben.
Dazu müssen wir uns weigern, unseren Verstand in diesem Zustand der vagen und passiven Ungenauigkeit zu belassen, der bei den meisten Menschen fast konstant ist.
Um uns allmählich von dieser Schläfrigkeit zu befreien, können wir, wenn wir ein Wort aussprechen, uns zwingen, über seine genaue Bedeutung, seine wahre Bedeutung nachzudenken, um es so voll wirksam zu machen.

Die Kraft der Worte stammt aus drei verschiedenen Quellen
Worte der Mutter
In diesem Zusammenhang können wir sagen, dass die aktive Kraft der Worte aus drei verschiedenen Quellen kommt.
Die ersten beiden liegen im Wort selbst, das zu einer Vielzahl von Kräften geworden ist. Die dritte liegt in der Tatsache, dass wir den tiefen Gedanken ganzheitlich leben, den das Wort ausdrückt, wenn wir es aussprechen.
Wenn diese drei Ursachen der Wirksamkeit kombiniert werden, wird natürlich die Macht des Wortes erheblich verstärkt.
1) Es gibt bestimmte Wörter, deren Resonanz in der physischen Welt die perfekte schwingungstechnische Materialisierung der subtileren Schwingung ist, die durch den Gedanken in seinem eigenen Bereich erzeugt wird. Wenn wir diese Ähnlichkeit zwischen den Schwingungen des Denkens und des Klangs genau untersuchen, können wir die begrenzte Anzahl von Grundsilben entdecken, die die allgemeinsten Ideen zum Ausdruck bringen und die in den meisten gesprochenen Sprachen mit einer fast identischen Bedeutung zu finden sind. (Dieser Sprachursprung ist nicht zu verwechseln mit dem Ursprung von Schriftsprachen, die ganz unterschiedlicher Natur sind und unterschiedlichen Bedürfnissen entsprechen.)
2) Es gibt andere Wörter, die unter bestimmten Umständen seit Hunderten von Jahren wiederholt wurden und die mit den mentalen Kräften all derer, die sie ausgesprochen haben, im Einklang stehen. Sie sind wahre Energiebatterien.
3) Schließlich gibt es Wörter, die eine unmittelbare Bedeutung annehmen, sobald sie ausgesprochen werden, und zwar als Ergebnis des lebendigen Denkens des Sprechers.
Das von mir eben Gesagte möchte ich an einem Beispiel veranschaulichen. Es gibt hier ein sehr machtvolles Wort, denn es kann die Qualitäten aller drei Kategorien kombinieren: Es ist das Sanskritwort „AUM“.
Es wird in Indien verwendet, um die göttliche Immanenz auszudrücken. Dort ist es mit jeder Meditation, jeder Kontemplation, jeder yogischen Praxis verbunden.
Wie kein anderer Klang vermittelt dieser Klang „AUM“ ein Gefühl des Friedens, der Gelassenheit, der Ewigkeit.
Außerdem ist dieses Wort erfüllt mit den mentalen Kräften, die sich seit Jahrhunderten bei allen, die es benutzt haben, um jene Idee angesammelt haben, die es ausdrückt, und vor allem für die Hindus hat es die wahre Kraft, einen mit der göttlichen Essenz in Berührung zu bringen, die es hervorruft.
Und da die Orientalen einen religiösen Geist und die Gewohnheit der Konzentration haben, sprechen nur wenige dieses Wort ohne die Überzeugungskraft aus, die notwendig ist, um es voll wirksam zu machen.
In China wird ein ähnlicher Effekt mit einem Wort von identischer Bedeutung und etwas ähnlichem Klang, dem Wort „TAO“, erzielt.
Unsere westlichen Sprachen sind weniger ausdrucksstark. In ihrer jetzigen Form sind sie zu weit von der Wurzelsprache entfernt, die sie hervorgebracht hat. Aber immer können wir ein Wort durch die Kraft unseres lebendigen und aktiven Denkens beleben.
Außerdem gibt es Formeln, die wir gewinnbringend zu all denjenigen hinzufügen könnten, die allgemein verwendet werden.
Diese Formeln wurden in bestimmten alten Schulen der Initiation verwendet. Sie dienten als Grüße, und im Mund eines Menschen, der wusste, wie man sie denkt, hatten sie eine ganz besondere Wirkkraft. Die Jünger, die Neophyten, die ihre ersten Schritte auf dem Weg machten, wurden begrüßt: „Möge der Friede der Ausgewogenheit mit dir sein.“
Alle wurden begrüßt, die durch ihre ständige und progressive innere und äußere Haltung ihren tiefen und dauerhaften guten Willen gezeigt hatten: „Möge das höchste Gut dir gehören.“
Und bei einigen Lehrern, die besonders hohe Kräfte zeigten, wurde dieses Wort mit der Kraft ausgestattet, wahre Gaben zu vermitteln, zum Beispiel die Gabe der Heilung.

1 Ananda, in der Sprache indischer spiritueller Erfahrung, ist die essentielle Freude, die der Unendliche in sich selbst und in seiner Schöpfung fühlt. Durch das Ananda des unendlichen Selbstes existiert alles, denn für das Ananda des Selbstes wurde alles erschaffen.