Kapitel 1

Die integrale göttliche Vollendung

Worte Sri Aurobindos

Unser Ziel ist die göttliche Vollkommenheit des menschlichen Wesens. Wir müssen zunächst wissen, welche wesentlichen Elemente eine totale Vollkommenheit des Menschen ausmachen. Ferner müssen wir uns klar machen, was wir unter göttlicher im Unterschied zur menschlichen Vollkommenheit verstehen. Wenn sich auch nur eine Minderheit der Menschen mit dieser Möglichkeit, die das wichtigste Ziel unseres Lebens sein soll, befasst, wird doch von der gesamten denkenden Menschheit grundsätzlich anerkannt, dass der Mensch seinem Wesen nach dazu befähigt ist, sich selbst zu entwickeln und an einen Stand der Vollkommenheit heranzukommen, den sein Mental begreifen, den es sich vornehmen und nach dem es streben kann. Manche fassen dieses Ideal als weltliche Umwandlung auf, während es für andere religiöse Umkehr bedeutet.

Oft begreift man die weltliche Vollkommenheit als etwas Äußeres, Soziales, als die Sache einer Aktion: Ein vernünftigerer Umgang mit unseren Mitmenschen und unserer Umwelt, bessere und tüchtigere Bürger sein und unsere Pflichten genauer erfüllen, die Lebensweise soll bereichert, freundlicher und glücklicher gestaltet werden, die Gesellschaft soll die Möglichkeiten der Existenz gerechter und harmonischer gestalten. Andere bevorzugen ein inneres und subjektives Ideal: Intelligenz, Wille und Vernunft sollen aufgeklärt, auf eine höhere Stufe gehoben werden, die Macht und Fähigkeit der menschlichen Natur soll erhöht und besser geordnet, das sittliche Leben edler, das ästhetische reicher, das Gefühlsleben mehr verfeinert und das vitale und körperliche Wesen gesünder und besser unter Kontrolle gehalten werden. Manchmal wird ein einzelnes Element bis fast zum Ausschluss der übrigen hervorgehoben. Manchmal – und das bei weitblickenden und ausgeglichenen Menschen – wird eine ganzheitliche Harmonie als totale Vollkommenheit angestrebt. Das äußere hierfür angewandte Mittel ist eine Veränderung in der Erziehung und in den sozialen Institutionen, oder man bevorzugt ein inneres Selbst-Training und eine Selbst-Entfaltung als wahre Hilfsmittel. Diese beiden Ziele können aber auch miteinander vereinigt werden: Vervollkommnung des inneren individuellen Wesens und die Vervollkommnung des äußeren Lebens.

Das weltliche Ziel verwendet das gegenwärtige Leben und seine Möglichkeiten als Betätigungsfeld. Im Gegensatz dazu besteht das religiöse Ziel in einer Selbst-Vorbereitung auf eine andere Existenz nach dem Tode. Das allgemeine Ideal der Religion ist eine Art Heiligkeit. Ihr Mittel ist Bekehrung des unvollkommenen oder sündigen menschlichen Wesens durch die göttliche Gnade oder durch den Gehorsam gegenüber dem Gesetz, das in einer Heiligen Schrift niedergelegt oder durch einen Religionsstifter gegeben wurde. Das Ziel der Religion mag gesellschaftliche Umwandlung einschließen, doch diese Umwandlung geschieht meist durch die Annahme eines gemeinsamen religiösen Ideals und die Methode eines gottgeweihten Lebens, durch eine brüderliche Gemeinschaft der Heiligen, eine Theokratie oder ein Reich Gottes, das auf Erden das Himmelreich widerspiegelt.

Das Ziel unseres Yoga, der auf einer Synthese beruht, muss in dieser Beziehung wie in anderen Teilen integraler und umfassender sein. Er muss all diese Elemente oder diese Tendenzen eines stärkeren Impulses zur Selbstvervollkommnung enthalten, und er muss sie in Einklang miteinander, ja zur Einheit bringen. Damit er das mit Erfolg tun kann, muss er eine Wahrheit zugrunde legen, die weiter als das gewöhnliche religiöse und höher als das weltliche Prinzip ist. Alles ist ein geheimer Yoga, ein geheimes Wachsen der Natur zur Entdeckung und Erfüllung des göttlichen Prinzips, das in ihr verborgen liegt und das im menschlichen Wesen, je weiter dieses Wachsen fortschreitet, mehr und mehr offenbart, bewusst und lichtvoll wird. Je mehr sich alle Instrumente des Wissens, Wollens, Handelns und Lebens dem Geist öffnen, der im Menschen und in der Welt ist, desto stärker bekommt das Selbst dieses göttliche Prinzip in seinen Besitz. Mental, Leben und Körper, alle Gestaltungen unserer menschlichen Natur, sind die Mittel für dieses Wachsen. Ihre höchste Vervollkommnung finden sie aber nur dann, wenn sie sich für etwas öffnen, das jenseits von ihnen ist, denn erstens sind sie nicht das Ganze, das der Mensch eigentlich ist, und zweitens ist jenes Etwas, das er eigentlich ist, der Schlüssel zu seinem vollständigen Wesen. Es bringt ihm ein Licht, das ihm die ganze hohe und weite Wirklichkeit seines Wesens offenbart.

Das Mental kommt durch ein größeres Wissen zu seiner Erfüllung; es ist jetzt erst im Dämmerlicht. Das Leben entdeckt seine Bedeutung in einer größeren Macht und in einem stärkeren Willen, aus denen es jetzt noch verdunkelt nach außen wirkt. Der Körper findet seine höchste Verwendung darin, Instrument einer Macht des Seins zu sein, für die er die physische Stütze und den materiellen Ausgangspunkt bildet. Sie alle müssen sich zuerst selbst entfalten und ihre gewöhnlichen Wirkensmöglichkeiten entdecken. Unser normales Leben ist ein Ausprobieren dieser Möglichkeiten und eine Gelegenheit für dieses vorbereitende und zaghafte Selbst-Training. Jedoch kann das Leben erst dann zur vollkommenen Selbst-Erfüllung gelangen, wenn es sich für jene größere Wirklichkeit des Seins öffnet, für die es dann ein wohlbereitetes Wirkungsfeld ist, deren reichere Macht es entfaltet, vernünftiger verwendet und deren Leistungsfähigkeit es steigert.

Darum sind Ausbildung und bessere Anwendung des Intellekts, des Willens, der Sittlichkeit, des Gefühls- und ästhetischen Lebens sowie des Körpers sehr nützlich, doch nur eine konstante Kreisbewegung ohne befreiendes und erleuchtetes Endziel, falls sie nicht dahin gelangen, dass sie sich für die Macht und Gegenwart des Geistes öffnen und dessen direkte Einwirkung zulassen. Dieses unmittelbare Einwirken führt zur Umkehr des Wesens, der unentbehrlichen Bedingung unserer Vervollkommnung. Darum ist es Prinzip und Ziel eines Integralen Yoga der Selbst-Vervollkommnung, dass wir in die Wahrheit und Macht des Geistes hineinwachsen und durch das direkte Wirken dieser Macht zu einem brauchbaren Träger werden, durch den das Selbst sich so zum Ausdruck bringen kann – ein Leben des Menschen im Göttlichen und ein göttliches Leben des Geistes in der Menschheit.

Gerade weil eine persönliche Anstrengung dazu notwendig ist, muss es bei dem Prozess dieser Umwandlung zwei Stufen geben. Zuerst muss das menschliche Wesen seine persönlichen Kräfte einsetzen, sobald es durch die Seele, das Mental und das Herz dieser göttlichen Möglichkeit innewird und sich ihr als wahrem Lebensziel zuwendet, um sich dafür vorzubereiten und all das loszuwerden, was einem niederen Wirken angehört. Es muss sich von allem befreien, was dem entgegensteht, um sich für die spirituelle Wahrheit und ihre Macht zu öffnen, um mit der Befreiung sein spirituelles Wesen in Besitz zu nehmen und alle natürlichen Regungen in Mittel umzuwandeln, durch die sich das Selbst frei zum Ausdruck bringt. Mit dieser Umkehr beginnt der des Selbstes bewusste Yoga, der sich über seine Ziele klar ist: Es kommt zu einem neuen Erwachen und zu einer Hinwendung des Lebensmotivs nach oben. Wir befinden uns solange in dem geheimen, noch unerleuchteten, vorbereitenden Yoga der Natur, als wir uns nur intellektuell, ethisch oder anders für die jetzigen normalen Ziele des Lebens üben, was kaum über den gewöhnlichen Wirkenskreis des Mentals, des Vitals und des Körpers hinausgeht. Wir verfolgen dabei allein das Ziel gewöhnlicher menschlicher Vollkommenheit. Das effektive Zeichen dieser Umwandlung und der vorläufigen Macht einer großen integralen Umkehr unseres Wesens und Lebens ist das spirituelle Verlangen nach dem Göttlichen und einer göttlichen Vollkommenheit, nach Einung mit ihm in unserem Wesen und nach spiritueller Vervollkommnung unserer menschlichen Natur.

Durch diese persönliche Anstrengung kann nur eine vorläufige Umwandlung, eine anfängliche Umkehr bewirkt werden. Sie besteht darin, dass unsere mentalen Motive, unser Charakter und Temperament mehr oder weniger spiritualisiert werden. Das vitale und physische Leben wird gemeistert, zur Ruhe oder zu einem veränderten Wirken gebracht. Die umgewandelte subjektive Wesensart kann zur Grundlage für eine Kommunion oder Einung der im Mental wohnenden Seele mit dem Göttlichen werden und zu einer teilweisen Spiegelung der göttliche Natur in der Mentalität des menschlichen Wesens. Bis zu dieser Grenze kann der Mensch mit seiner nicht oder nur indirekt unterstützten Anstrengung gehen. Denn das ist ein Ringen des Mentals, und das Mental kommt auf die Dauer nicht über sich hinaus: Das Höchste, zu dem es sich erheben kann, ist eine spiritualisierte und idealisierte Mentalität. Wenn es über diese Grenze hinausgeht, verliert es den Halt an sich selbst und den Halt am Leben. Es gerät dann entweder in einen Trancezustand, der es völlig absorbiert, oder in eine Passivität. Zur höheren Vollkommenheit kann man nur gelangen, wenn eine höhere Macht das gesamte Wirken des Wesens durchdringt und zu sich emporhebt. Darum ist es die zweite Stufe dieses Yoga, beharrlich alles Wirken der menschlichen Natur in die Hand dieser höheren Macht zu legen. Wir ersetzen so das persönliche Ringen durch deren Einfluss und Herrschaft über uns und ihr Wirken in und durch uns. Schließlich wird das Göttliche, nach dem wir streben, zum unmittelbaren Meister des Yoga und bewirkt unsere volle spirituelle und ideelle Umkehrung.

Der Doppelcharakter unseres Yoga hebt ihn über das weltliche Ideal von Vollkommenheit hinaus und strebt zugleich höher als die himmelstürmende, intensivere, aber viel engere religiöse Formel. Das weltliche Ideal sieht im Menschen immer ein mentales, vitales und physisches Wesen. Sein Ziel ist menschliche Vollkommenheit innerhalb dieser Grenzen: eine Vervollkommnung des Mentals, des Vitals und des Körpers, eine Ausdehnung und Verfeinerung des Intellekts und des Wissens, eine Ausweitung der Kräfte des Willens und der Macht, eine Steigerung des sittlichen Charakters, des Lebenszieles und des Verhaltens, eine höhere ästhetische Empfindsamkeit und Schöpferkraft, eine Ausgeglichenheit der Gefühle und Lebensfreuden, die Gesundheit von Vital und Körper, ein wohlgeordnetes Handeln und Rechtschaffenheit. Das ist ein weites und großes Ziel. Es ist aber nicht groß und weit genug, da jenes höhere Element unseres Wesens unbeachtet bleibt, das unser Mental nur unbestimmt als das spirituelle Element erfassen kann. Dieses lässt es entweder unentwickelt oder leistet ihm nur unzureichend Genüge als einer hohen, doch nur gelegentlichen oder zusätzlichen abgeleiteten Erfahrung, die als Ausnahmeerscheinung der Aktivität des Mentals entstammt oder des Mentals bedarf, um überhaupt existieren und dauern zu können. Wenn das Ideal der Vollkommenheit die himmelstrebenden, umfassenden Bereiche unserer Mentalität zu entfalten sucht, kann es zwar zu einem hohen Ziel werden, aber nicht hoch genug, um seine Aspirationen über das Mental hinaus auf das zu richten, von dem unsere reine Vernunft, unsere hellste mentale Intuition, unser tiefstes mentales Empfinden und Fühlen, unsere stärkste mentale Willenskraft und Macht oder das ideale Ziel und die Absichten des Mentals nur blasse Ausstrahlungen sein können. Auch ist das Ziel dieses weltlichen Ideals nur auf die irdische Vervollkommnung des normalen menschlichen Lebens gerichtet.

Ein Yoga der integralen Vervollkommnung sieht im Menschen ein göttliches, spirituelles Wesen, das im Mental, Vital und Körper involviert ist. Sein Ziel ist deshalb die Befreiung und Vervollkommnung seiner göttlichen Natur. Er strebt danach, das innere Leben im vollkommen entwickelten spirituellen Wesen zum ständigen, eigentlichen Leben des Menschen zu machen. Die spiritualisierte Aktion von Mental, Vital und Körper soll nur der menschliche Ausdruck des spirituellen Wesens sein. Dieser Yoga sucht, über das Mental hinaus zum supramentalen Wissen, Wollen, Empfinden, Fühlen, zur supramentalen Intuition und dynamischen Antriebskraft des vitalen und physischen Handelns vorzudringen, zu allem, was das ursprüngliche Wirken des spirituellen Wesens ausmacht. Das geschieht, damit das spirituelle Wesen nichts Vages, Undefinierbares oder etwa unvollkommen Realisiertes bleibe, das auf die mentale Stütze angewiesen ist und mentalen Beschränkungen unterliegt. Darum nimmt dieser Yoga zwar das menschliche Leben an, trägt aber der weiten überirdischen Aktion hinter dem irdischen materiellen Leben Rechnung. Er vereinigt sich mit dem göttlichen Sein, aus dem alle partiellen und niederen Zustände als aus ihrem höchsten Ursprung hervortreten. So wird alles Leben seiner göttlichen Quelle bewusst und fühlt jedes Mal, wenn Wissen, Wollen, Fühlen, Empfinden und Körper aktiv werden, den alles verursachenden göttlichen Impuls. Dieser Yoga weist nichts zurück, was in der weltlichen Zielsetzung wesentlich ist. Vielmehr weitet er es aus, findet seine höhere, wahre Bedeutung, die dem weltlichen Ziel verborgen ist, und lebt darin. So gestaltet er es um aus etwas Begrenztem, Irdischem und Sterblichem in eine Form von unendlichem, göttlichem und unsterblichem Wert.

Der Integrale Yoga trifft sich mit dem religiösen Ideal an mehreren Punkten, geht aber gemäß seiner größeren Weite darüber hinaus. Das religiöse Ideal richtet seinen Blick nicht nur auf diese Erde, sondern auch von ihr weg auf einen Himmel, ja über alle Himmel hinaus auf ein Nirvana. Sein Ideal der Vollkommenheit ist auf jede Art innerer oder äußerer Wandlung gerichtet, die letztlich der Abwendung der Seele vom menschlichen Leben und der Hinwendung zum Jenseits dient. Seine übliche Idee von Vollkommenheit ist eine religiös-ethische Wandlung und drastische Läuterung des aktiven und emotionalen Wesens, die dort, wo sie ihr höchstes Ziel erlangt, oft in asketischer Entsagung und Zurückweisung der vitalen Impulse gipfelt. Jedenfalls liegen Motiv und Lohn oder Ertrag eines Lebens der Frömmigkeit und richtigen Verhaltens im Überirdischen. Sofern das religiöse Ideal eine Wandlung von Wissen, Wollen und Empfinden zulässt, werden diese anderen Zwecken als denen des menschlichen Lebens zugewandt. Das führt schließlich zum Verzicht auf alle irdischen Inhalte des Empfindens des Schönen, Wollens und Wissens. Anders als die Methode weltlicher Vervollkommnung kennt die religiöse Methode keine Entwicklung, stattdessen Umkehr, einerlei, ob dabei Nachdruck auf persönliches Bemühen oder göttlichen Einfluss, auf unser Wirken und Erkennen oder die Gnade gelegt wird. Letzten Endes beabsichtigt sie nicht, unsere mentale und physische Natur zu wandeln. Vielmehr will sie statt ihrer eine rein spirituelle Natur und deren Wesen annehmen. Da das auf Erden nicht möglich ist, möchte das religiöse Ideal zu seiner höchsten Erfüllung die gesamte kosmische Existenz in eine andere Welt versetzen oder völlig abschütteln.

Der Integrale Yoga gründet sich jedoch auf die Auffassung, dass das spirituelle Wesen allgegenwärtig ist. Seine Fülle wird ihrem Wesen nach nicht verwirklicht, indem wir uns in andere Welten versetzen oder die eigene kosmische Existenz auslöschen, sondern wenn wir aus dem, was wir jetzt unserer äußeren Erscheinung nach sind, herauswachsen und in das Bewusstsein allgegenwärtiger Wirklichkeit eingehen, die wir im Wesenhaften unseres Seins immer sind. Der Integrale Yoga ersetzt demnach die Form der religiösen Frömmigkeit durch sein vollständigeres spirituelles Suchen nach Einung mit dem Göttlichen. Er geht vom persönlichen Bemühen aus und beschleunigt unsere Umkehr, indem er das Göttliche in uns einströmen und von uns Besitz ergreifen lässt. Die göttliche Gnade, wenn wir es so nennen dürfen, ist aber nicht einfach ein geheimnisvolles Einströmen oder eine Hand, die von oben her berührt. Vielmehr ist sie das alles durchdringende Handeln der göttlichen Gegenwart, die wir immer mehr als die in unserem Innern wirkende Macht des höchsten Selbstes und des Meisters unseres Wesens erkennen, die in unsere Seele eingeht und sie so in Besitz nimmt, dass wir fühlen, wie sie uns nahe ist und auf unsere sterbliche Natur Druck ausübt. Wir leben in ihrem Gesetz, kennen und besitzen sie als die ganze Kraft unserer spiritualisierten Natur. Die Bekehrung, die sie zustande bringt, ist eine integrale Umwandlung: Unser ethisches Wesen wird in die Wahrheit und das Recht der göttlichen Natur gewandelt, unser intellektuelles Wesen in die Erleuchtung göttlichen Wissens, unser emotionales Wesen in die göttliche Liebe und Einung, unser dynamisches und willenhaftes Wesen in das Wirken einer göttlichen Macht, unser ästhetisches Wesen in ein uneingeschränktes Aufnehmen und ein schöpferisches Genießen der göttlichen Schönheit, und schließlich ist eine göttliche Umwandlung des vitalen und körperlichen Wesens nicht ausgeschlossen. Der Integrale Yoga sieht im vorausgegangenen Leben ein unbeabsichtigtes und unbewusstes oder halbbewusstes vorbereitendes Wachsen auf diese Wandlung hin und Yoga als die freiwillige und bewusste Bemühung und Verwirklichung dieses Wandels, durch den der Zweck der menschlichen Existenz im Prozess ihrer Umgestaltung in all ihren Teilen erfüllt wird. Der Integrale Yoga erkennt die suprakosmische Wahrheit und ein Leben in jenseitigen Welten an. Aber er sieht auch, dass die irdische Existenz ein in diese Welt ausgedehnter Zustand der einen Existenz ist. Darum ist die Wandlung des einzelnen Menschen wie das Gemeinschaftsleben auf Erden eine Form göttlicher Sinnerfüllung des Seins.

Die wesentliche Voraussetzung für die integrale Vervollkommnung ist, dass wir uns für das suprakosmische Göttliche öffnen. Die andere Bedingung ist, dass wir uns mit dem universalen Göttlichen einen. Hier fällt der Yoga der Selbst-Vervollkommnung zusammen mit dem Yoga des Wissens, des Wirkens und der Hingabe. Denn es ist unmöglich, die menschliche Natur in die göttliche umzuwandeln oder sie zum Instrument des göttlichen Wissens und Willens und der göttlichen Daseinsfreude zu machen, solange es keine Einheit mit dem höchsten Sein, Bewusstsein und der höchsten Glückseligkeit und keine Einung mit seinem universalen Selbst in allen Dingen und Wesen gibt. Der individuelle Mensch kann die göttliche Natur nicht völlig getrennt besitzen, indem er sich in sie zurückzieht und ganz in ihr aufgeht. Solange das Leben als trennendes Dasein in Mental, Vital und Körper dauert, wird diese Einheit keine zuinnerst spirituelle sein. Die vollständige Vollkommenheit besteht darin, dass es durch diese spirituelle Einung auch die Einung mit dem universalen Mental, dem universalen Vital und der universalen Form erlangt, mit diesen anderen Konstanten des kosmischen Seins. Da überdies das Leben als Selbstausdruck des im Menschen verwirklichten Göttlichen aufzufassen ist, muss es ein Wirken der göttlichen Natur in unserem Leben geben. Daraus erfolgt notwendig die supramentale Umwandlung, die das unvollkommene Wirken der Oberflächen-Natur durch das ursprüngliche Wirken des spirituellen Wesens ersetzt und die mentalen, vitalen und physischen Seiten der äußeren Natur durch die Ideenkraft des Geistes spiritualisiert und umgestaltet. Diese drei Elemente bilden den Inbegriff integraler göttlicher Vollkommenheit des menschlichen Wesens: das Einswerden mit dem erhabenen Göttlichen, das Einswerden mit dem universalen Selbst und eine supramentale Lebens-Aktion aus dem transzendenten Ursprung und durch diese Universalität, wobei der individuelle Mensch weiterhin durch seine Seele als Träger und natürliches Instrument fungiert.

Worte Sri Aurobindo

Was ist eine vollkommene Yogatechnik, oder besser gesagt, ein weltverändernder oder naturverändernder Yoga? Mit Sicherheit nicht einer, der den Menschen bei einem kleinen Stück seiner selbst nimmt, dort einen Haken anbringt und ihn über einen Flaschenzug in das Nirvana oder Paradies befördert. Die Technik eines weltverändernden Yoga muss vielgestaltig sein, geschmeidig, geduldig, allumfassend wie die Welt selbst. Wenn sie sich nicht mit allen Schwierigkeiten oder Möglichkeiten befasst oder sich mit jedem erforderlichen Element sorgsam auseinandersetzt, hat sie keine Aussicht auf Erfolg. Und gibt es eine vollkommene, für alle verständliche Technik, die dies vermag? Es ist nicht mit dem Verfassen eines kleinen Gedichtes zu vergleichen, in vorgeschriebenem Versmaß mit einer bestimmten Anzahl von Modulationen. Es ist das Mahabharata eines Mahabharatas, das geschrieben werden muss – um bei dem Gedichtgleichnis zu bleiben.