Kapitel 1
Der Wanderstab muss aus dem Feuer des Glaubens bestehen1
Worte Sri Aurobindos
Wenn man den Yoga aufnimmt, geschieht dies meist nicht durch die Kraft der Erfahrung, sondern durch die Kraft des Glaubens. Dies ist nicht nur im Yoga und spirituellen Leben der Fall, sondern auch im gewöhnlichen Leben. Alle Menschen der Tat, Entdecker, Erfinder, Wissenschaftler, schreiten durch den Glauben voran, bis der Beweis erbracht oder die Sache getan ist, und sie halten sich daran trotz Enttäuschung, Fehlschlag, Gegenbeweis und Verneinung. Denn etwas im Innern sagt ihnen, dass dies die Wahrheit ist und dass man die Sache aufnehmen und durchführen muss. Auf die Frage, ob blinder Glaube nicht falsch sei, ging Ramakrishna so weit zu sagen, dass blinder Glaube die einzige Art Glaube sei, die es gibt. Denn Glaube ist entweder blind, oder er ist kein Glaube, sondern etwas anderes, eine begründete Schlussfolgerung, eine bewiesene Überzeugung oder gesichertes Wissen.
Glaube ist der Zeuge der Seele für etwas, das sich noch nicht offenbart hat, das noch nicht erreicht oder verwirklicht wurde, das dennoch der Wissende in uns als das Wahre empfindet, als zuhöchst wert, dass man ihm folgt oder es erreicht, auch wenn keine anderen Anzeichen vorhanden sind. Dieses Etwas in uns kann andauern, selbst wenn das Mental keinen gefestigten Glauben hat, selbst wenn das Vital dagegen kämpft und aufbegehrt und sich weigert. Wo gibt es den, der den Yoga ausübt und der nicht durch diese Zeiten hindurch muss – durch lange Zeitspannen der Enttäuschung, des Fehlschlags, des Unglaubens und der Finsternis? Doch etwas hält ihn aufrecht und macht weiter – ihm selbst zum Trotz –, da es fühlt und, mehr noch, da es weiß, dass es auf jeden Fall das Wahre ist, dem es folgt. Der grundlegende, der Seele innewohnende Glaube ist, dass es das Göttliche gibt und dass das Göttliche das Einzige ist, dem man zu folgen hat, und dass nichts anderes im Leben einem Vergleich damit standhält. Solange ein Mensch diesen Glauben besitzt, ist er für das spirituelle Leben bestimmt, und selbst wenn seine Natur voller Widerstände, voller Ablehnung und Schwierigkeiten ist, und selbst wenn er viele Jahre zu kämpfen hat, ist er dennoch für den Erfolg im spirituellen Leben ausersehen.
Es ist dieser Glaube, den du entwickeln musst – ein Glaube, der mit der Vernunft und dem gesunden Menschenverstand übereinstimmt –, dass, wenn es das Göttliche gibt und wenn es dich auf den Pfad gerufen hat (wie es offensichtlich der Fall ist), es eine Göttliche Führung dahinter geben muss, und durch und trotz aller Schwierigkeiten wirst du am Ziel anlangen. Höre nicht auf die feindlichen Stimmen, die dich an einen Fehlschlag glauben lassen, oder auf ihr Echo, die Stimmen der Ungeduld und vitalen Hast. Glaube nicht, dass es wegen der großen Schwierigkeiten keinen Erfolg geben kann oder, da das Göttliche sich bislang nicht zeigte, es sich niemals zeigen wird, sondern habe vielmehr die Einstellung, die jeder hat, der ein großes und schwieriges Ziel verfolgt, nämlich: „Ich werde ungeachtet aller Schwierigkeiten weitergehen, bis ich Erfolg habe.“ Dem derjenige, der an das Göttliche glaubt, hinzufügt: „Es gibt das Göttliche, und es kann mir nicht misslingen, ihm zu folgen. Ich werde weitergehen und alles auf mich nehmen, bis ich es finde.“

Worte Sri Aurobindos
Dieses sraddha – das englische Wort „faith“, Glaube, ist unzulänglich, um es auszudrücken – ist in Wirklichkeit der Einfluss des erhabenen Geistes. Sein Licht ist eine Botschaft aus unserem supramentalen Wesen, das die niedere Natur aufruft, sich aus ihrer kleinlichen Gegenwart zu größerem Selbstsein zu erheben und über sich hinauszukommen. Was diesen Einfluss empfängt und auf den Ruf antwortet, ist nicht so sehr der Intellekt, das Herz oder das Lebens-Mental, sondern die innere Seele, die die Wahrheit ihrer eigenen Bestimmung und Sendung viel besser kennt. Die Umstände, die am Anfang unsere Wahl des Pfades hervorrufen, sind nicht der eigentliche Hinweis auf die Sache, die in unserem Innern am Wirken ist. Hier mögen Intellekt, Herz oder Verlangen des Lebens-Mentals den hervorragenden Platz einnehmen; es können noch zufällige Ereignisse und äußere Anreize eine Rolle spielen. Wenn das aber alles ist, kann keine Sicherheit bestehen, dass wir dem Ruf treu bleiben und beharrlich am Yoga festhalten. Der Intellekt mag die Idee, die ihn anzog, wieder aufgeben, das Herz mag matt werden und uns im Stich lassen, das Begehren des Lebens-Mentals mag sich anderen Dingen zuwenden. Die äußeren Umstände sind eben nur Umhüllung der eigentlichen Wirkensweisen des Geistes. Wenn es in Wahrheit der Geist ist, mit dem wir in Berührung kamen, und wenn die Seele im Innern den Ruf empfangen hat, wird der Glaube, sraddha, stark bleiben und allen Versuchungen widerstehen, die ihn besiegen oder töten wollen. Nicht als ob die Zweifel des Intellekts uns nicht weiter bestürmen, das Herz nicht unschlüssig wanken und das enttäuschte Begehren des Lebens-Mentals sich nicht erschöpft niederlassen würde. Das ist gelegentlich, ja vielleicht oft, unvermeidlich, besonders bei uns, den Kindern eines Zeitalters der Intellektualität, der Skepsis und des materialistischen Leugnens spiritueller Wahrheit. Unsere Zeit hat die Wolken, die sie vor das Angesicht der Sonne höherer Wirklichkeit gepinselt hat, noch nicht entfernt. Noch leistet sie dem Licht spiritueller Intuition und innerster Erfahrung Widerstand. Möglicherweise wird es noch viele solcher schmerzvollen Verfinsterungen geben, über die sich schon die Rishis der vedischen Zeit so oft beklagten: „Lange Verbannung aus dem Reiche des Lichts…“ Und diese Finsternis mag so dicht, die Nacht der Seele so schwarz sein, dass uns der Glaube bis zum Äußersten im Stich gelassen zu haben scheint. Durch all das hindurch wird der Geist im Innern seine unsichtbare Macht behalten, und die Seele wird mit neuer Kraft zu ihrer Gewissheit zurückkehren, die nur verdunkelt war und nicht ausgelöscht wurde. Sie kann nicht ausgelöscht werden, wenn das innere Selbst einmal zum Wissen gelangt ist und seine Entscheidung getroffen hat, samkalpa vyavasaya. Durch alles hindurch hält das Göttliche unsere Hand fest. Wenn es auch scheint, als ob Es uns fallen ließe, geschieht das doch nur, damit Es uns umso höher erheben kann. Errettende Rückkehr werden wir so oft erleben, dass Zweifel schließlich nicht mehr möglich sind. Wenn die Gelassenheit fest in der Seele verankert ist und, noch mehr, die Sonne der Gnosis aufgeht, wird der Zweifel verschwinden, seine Ursache und Zweckmäßigkeit aufgehört haben.
Überdies ist nicht nur Glaube an das fundamentale Prinzip, an die Ideen und den Weg des Yoga nötig. Geboten ist ein tagtäglicher Arbeitsglaube: an die Macht in uns, die uns ans Ziel bringt, an die Schritte, die wir auf dem Weg unternehmen, an die spirituellen Erfahrungen, die zu uns kommen, an die Intuitionen und lenkenden Regungen unseres Willens und unserer Impulse, an die tiefen und intensiven Gefühle des Herzens, an Aspiration und Erfüllung des Lebens, die uns Hilfen sind, an die Umstände und Stufen, auf denen unsere Natur ausgeweitet wird, und an die Anregungen oder Fortschritte bei der Entwicklung der Seele. Zugleich muss man daran denken, dass wir uns auf dem Weg aus Unvollkommenheit und Unwissenheit hin zum Licht und zur Vollkommenheit bewegen. Der Glaube in uns muss dabei frei sein vom Haften an den Formen unseres Ringens und an den aufeinanderfolgenden Stufen unserer Verwirklichung. Einerseits wird dabei vieles in uns deshalb so stark aufkommen, damit es ausgesondert und zurückgewiesen wird. Es ist ein Kampf der Mächte der Unwissenheit und niederen Natur gegen die höheren Mächte, die sie zu ersetzen haben. Andererseits wird man später finden, dass Erfahrungen, Zustände des Denkens und Fühlens und hilfreiche Formen der Verwirklichung, die auf dem Wege angenommen werden müssen und uns mitunter als spirituell endgültig erscheinen, doch nur Stufen des Übergangs waren. Man muss über sie hinausgelangen, und der Arbeitsglaube, der sie bisher stützte, muss ihnen entzogen werden zugunsten anderer größerer Dinge oder vollständigerer und umfassenderer Erkenntnisse und Erfahrungen. Diese ersetzen jene, oder jene werden in einer sie vervollkommnenden Transformation in diese aufgenommen. Für den Suchenden des Integralen Yoga gibt es kein Ausruhen und Verweilen auf halbem Weg. Er darf sich nicht zufrieden geben, ehe er die großen, dauerhaften Fundamente seiner Vollkommenheit in den Grund gesenkt hat und den Ausbruch in ihre weite, freie Unendlichkeit vollzog. Selbst dort muss er sich ständig mit neuen Erfahrungen des Unendlichen erfüllen. Sein Fortschreiten ist ein Aufsteigen zu höherer Ebene. Jeder neue Gipfel schenkt ihm andere Ausblicke und Offenbarungen des vielen, das noch zu tun ist, bhuri kartvam. Schließlich nimmt die göttliche Shakti all sein Ringen in ihre Hand, und er darf in zustimmendem Einssein froh an ihrem lichtvollen Wirken teilnehmen. Starker Glaube an die Shakti wird ihm in den Umwandlungen, Kämpfen und Transformationen beistehen, die ihn sonst entmutigen und lähmen würden. Denn Intellekt, Leben und Emotion wollen die Dinge stets an sich reißen. Sie halten sich an unausgereiften Gewissheiten fest, neigen zu Niedergeschlagenheit und werden unwillig, wenn sie gezwungen sind, das aufzugeben, worin sie Ruhe gefunden hatten. Dem Sadhaka hilft der starke Glaube an die wirkende Shakti und die Zuversicht der Führung durch den Meister des Yoga, dessen Weisheit nicht flüchtig ist und dessen Schritte mitten durch alle Bestürzungen des Mentals sicher, gerecht und heilvoll führen, gegründet auf verständnisvolle Befriedigung unserer Bedürfnisse.

1 Der Titel basiert auf den Worten Sri Aurobindos (CWSA 28, p. 260)