Kapitel 1
Das Göttliche Leben
Worte Sri Aurobindos
Auf den ersten Blick könnte es so aussehen, als ob das Drängen auf radikale Umwandlung unserer Natur alle Hoffnung der Menschheit in eine ferne Zukunft der Evolution hinausschiebt; scheint doch das Bemühen, unsere normale menschliche Natur zu überschreiten, in ein Jenseits unseres mentalen, vitalen und physischen Wesens emporzukommen, für den Menschen, wie er jetzt ist, zu hoch, zu schwer und unmöglich zu sein. Selbst wenn das so wäre, bliebe es die alleinige Möglichkeit einer neuen Mutation des Lebens; ist es doch unvernünftig und unspirituell, auf eine wahre Umwandlung des menschlichen Lebens zu hoffen, ohne dass die menschliche Natur umgewandelt wird; wir würden damit etwas Unnatürliches und Unwirkliches, ein unmögliches Wunder verlangen. Was aber durch diese Umwandlung bewirkt werden soll, ist nicht etwas völlig Fernliegendes, nichts, was unserem Sein fremd und für es radikal unmöglich ist; denn was so entwickelt werden soll, ist bereits in unserem Wesen vorhanden, es ist nicht außerhalb von ihm: worauf die evolutionäre Natur drängt, ist, dass wir wach werden für die Erkenntnis unseres Selbsts, für die Entdeckung des Selbsts, für die Offenbarung des Selbsts und des Geistes in unserem Innern, und dass wir dessen Selbst-Wissen, Selbst-Macht und seine ihm innewohnende Selbst-Instrumentierung sich frei entfalten lassen. Außerdem ist das ein Schritt, auf den hin das Ganze der Evolution eine Vorbereitung ist und bei jeder Krise im Schicksal der Menschheit kommt ihr Verlauf seinem Ziel näher, wenn die mentale und vitale Evolution des Wesens zu einem Punkt führt, an dem Intellekt und Vitalkraft einen gewissen Höhepunkt der Spannung erreichen und entweder zusammenbrechen, in Stumpfsinn und Versagen zurücksinken oder zum Stillstand kommen in einer Ruhe ohne weiteren Fortschritt oder sich ihren Weg erzwingen, indem sie die Verhüllung zerreißen, gegen die sie ankämpfen. Notwendig dazu ist, dass von einigen oder vielen in der Menschheit eine Umkehr zur Schau dieser Umwandlung gefühlt wird, dass sie ihre zwingende Notwendigkeit empfinden, dass sie auch der Möglichkeit dazu bewusst sind und den Willen haben, die Wandlung in sich selbst zu ermöglichen und den Weg zu finden. Diese Tendenz fehlt nicht und mit der wachsenden Krise im menschlichen Welt-Geschick muss sie zunehmen; die Notwendigkeit, entweder dem Problem zu entfliehen oder es zu lösen, und das Gefühl, dass es keine andere als die spirituelle Lösung gibt, muss unter dem Drängen der kritischen Umstände noch wachsen und immer zwingender werden. Wenn dieses Verlangen im Wesen der Menschen aufsteigt, muss darauf stets eine Antwort in der Göttlichen Wirklichkeit und in der Natur erfolgen.
In der Tat könnte die Antwort eine nur individuelle sein; das könnte zu einer Vermehrung der spiritualisierten Individuen führen oder auch, was vorstellbar, wenn auch nicht wahrscheinlich ist, dazu, dass eines oder mehrere gnostische Individuen isoliert in der nicht spiritualisierten Masse der Menschheit leben. Solche isolierten verwirklichten Wesen müssen sich entweder in ihr verborgenes göttliches Reich zurückziehen und sich in spiritueller Einsamkeit sichern, oder sie müssen mit ihrem inneren Licht auf die Menschheit einwirken, um auf das Wenige hinzuwirken, das unter solchen Verhältnissen um einer glücklicheren Zukunft willen vorbereitet werden kann. Die innere Umwandlung kann erst dann in kollektiver Form Gestalt annehmen, wenn der gnostische Einzelne andere Menschen findet, die dieselbe Art eines inneren Lebens führen wie er selbst, und wenn er mit diesen eine Gruppe bilden kann, die ihr autonomes Dasein führt, oder es muss sich eine besondere Gemeinschaft, ein Orden von Menschen aufgrund eigenen Lebensgesetzes bilden. Dieser innere Drang nach einem abgesonderten Leben mit eigener Lebensregel, die der inneren Macht oder Motiv-Kraft spirituellen Seins entspricht und eine eigene Atmosphäre entstehen lässt, hat sich in der Vergangenheit in der Bildung des Klosterlebens oder in Versuchen verschiedener Art ausgedrückt, ein neues getrenntes, selbst-regiertes kollektives Zusammenleben zu gestalten, das in seinem spirituellen Prinzip anders war als das gewöhnliche Leben. Das Klosterleben ist seiner Natur nach eine Vereinigung von Suchenden nach einer anderen Welt, von Menschen, deren ganzes Streben darauf gerichtet ist, die spirituelle Wirklichkeit zu finden, sie in sich zu verwirklichen und das gemeinsame Dasein durch Lebensregeln zu formen, die bei diesem Bemühen helfen. Gewöhnlich herrscht hier nicht das Bemühen, eine neue Lebensgestaltung zu bilden, die über die gewöhnliche menschliche Gesellschaft hinausgeht, und eine neue Welt-Ordnung zu schaffen. Es kann sein, dass eine Religion ein solches Zukunftsziel aufstellt oder einen ersten Versuch macht, ihm näher zu kommen. Es kann auch ein mentaler Idealismus einen solchen Versuch unternehmen. Alle diese Bemühungen sind aber stets an der Unbewusstheit und Unwissenheit unserer jetzigen menschlichen vitalen Natur gescheitert; denn diese Natur ist ein Hindernis, dessen gewaltige Widersetzlichkeit kein bloßer Idealismus, kein unvollkommenes spirituelles Streben auf die Dauer beherrschen kann. Entweder versagt ein solches Bemühen infolge seiner eigenen Unvollkommenheit, oder die Unvollkommenheit der umgebenden Welt dringt in es ein und es sinkt von der leuchtenden Höhe seines Strebens auf die gewöhnliche menschliche Stufe herab und wird zu etwas Vermischtem und Minderwertigem. Wenn ein gemeinsames spirituelles Leben das spirituelle Wesen, und nicht nur das mentale, vitale und physische, ausdrücken soll, muss es sich auf Werte gründen und diese durchhalten, die höher sind als die mentalen, vitalen und physischen der gewöhnlichen menschlichen Gesellschaft; steht das Streben nicht auf solchem Fundament, so wird daraus nur die übliche menschliche Gesellschaft in einer gewissen Abwandlung. Damit das neue Leben sichtbar hervortreten kann, ist ein völlig neues Bewusstsein in vielen Einzelnen nötig, das ihr ganzes Wesen transformiert und ihr mentales, vitales und physisches Natur-Selbst umwandelt; nur eine solche Umwandlung der allgemeinen Natur von Mental, Leben und Körper kann ein neues kollektives Dasein hervorbringen, das lebenswert ist. Die Tendenz der Entwicklung darf nicht nur darauf gerichtet sein, einen neuen Typus mentaler Wesen hervorzubringen, vielmehr soll es eine Art von Menschen sein, die ihr ganzes Dasein aus unserer gegenwärtigen mentalisierten Tierhaftigkeit auf eine umfassendere Ebene der Erden-Natur emporgehoben haben.
Jede solche vollständige Transformation des Erden-Lebens kann sich nicht auf einmal in einer nennenswerten Zahl von Menschen durchsetzen, selbst wenn der Wendepunkt erreicht und die entscheidende Linie überschritten ist, muss das neue Leben in seinen Anfängen noch durch eine Periode von Bedrängnis und mühevoller Entwicklung hindurchgehen. Der notwendige erste Schritt ist eine allgemeine Umwandlung aus dem alten Bewusstsein heraus. Durch diesen Schritt nehmen wir alles Leben in das spirituelle Prinzip empor; die Vorbereitung dazu mag lange dauern und die einmal begonnene Transformation selbst mag nur stufenweise vorwärtskommen. An einem gewissen Punkt mag sie im Einzelnen auch rasch erfolgen und sich sogar durch einen Sprung, einen Aufschwung der Entwicklung vollziehen; eine individuelle Transformation bedeutet aber noch nicht, dass ein neuer Menschen-Typus oder ein neues kollektives Leben erschaffen wurde. Man kann sich eine Anzahl einzelner Menschen vorstellen, die sich getrennt voneinander, inmitten des alten Lebens, entwickeln und später miteinander vereinigen, um den Kern des neuen Daseins zu bilden. Es ist aber nicht wahrscheinlich, dass die Natur auf diese Weise vorgeht, und es wäre auch für den einzelnen Menschen schwierig, eine vollständige Umwandlung zu erlangen, solange er noch in das Leben der niederen Natur eingeschlossen ist. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung mag es nötig sein, die uralte Methode zu befolgen und sich in einer gesonderten Gemeinschaft zusammenzuschließen in der doppelten Absicht: nur zuerst für sich eine gesicherte Atmosphäre zu schaffen, einen Ort und ein Leben, in dem sich das Bewusstsein des Einzelnen auf seine Entwicklung in einer Umgebung konzentrieren kann, in der alles auf dieses einzige Bemühen eingestellt und in ihm zentriert ist, und ferner, wenn diese Dinge dazu reif sind, um das neue Leben in dieser Umgebung und in dieser vorbereiteten spirituellen Atmosphäre auszudrücken und zu entfalten. Es mag sein, dass sich bei einer solchen Konzentration des Bemühens alle Schwierigkeiten der Umwandlung mit gesammelter Kraft einstellen; denn jeder Suchende trägt in sich die Möglichkeiten, aber auch die Unvollkommenheiten einer Welt, die transformiert werden soll, und somit bringt er nicht nur seine positiven Fähigkeiten mit, sondern auch seine Schwierigkeiten und die Widerstände seiner alten Natur. Vermischt in dem begrenzten Kreis eines kleinen engen Gemeinschaftslebens können diese an Zerstörungskraft beträchtlich zunehmen, was der gesteigerten Macht und Konzentration der Kräfte, die auf die Evolution hinwirken, entgegenarbeitet. Das ist eine Schwierigkeit, die in der Vergangenheit alle Bemühungen des mentalen Menschen vereitelt hat, etwas Besseres, Wahreres und Harmonischeres als das gewöhnliche mentale und vitale Leben zu entfalten. Wenn aber die Natur bereit ist, wenn sie die Entscheidung für die Evolution getroffen hat, wenn die aus den höheren Ebenen herniederkommende Macht des Geistes stark genug ist, wird diese Schwierigkeit überwunden und eine erste Gestaltung – oder Gestaltungen – dieser Evolution möglich.
Wenn wir uns darauf verlassen dürfen, dass das Gesetz der Evolution durch das führende Licht, den Willen und einen leuchtenden Ausdruck der Wahrheit des Geistes im Leben bestimmt wird, setzen wir eine gnostische Welt voraus, eine Welt, in der das Bewusstsein aller Wesen auf diese Basis gegründet ist; man darf annehmen, dass dort der Lebens-Austausch der gnostischen Individuen in einer gnostischen Gemeinschaft oder in Gemeinschaften seiner Natur nach in gegenseitigem Verstehen und Harmonie vor sich geht. Jetzt und hier verläuft aber tatsächlich ein Leben gnostischer Menschen noch innerhalb des Lebens von Menschen in der Unwissenheit oder Seite an Seite mit diesen und es versucht, in ihm oder aus ihm hervorzutreten, wobei es scheint, als seien die Gesetze dieser zwei Lebensformen konträr und einander widerstreitend. Es könnte also naheliegend sein, dass sich das Leben einer spirituellen Gemeinschaft gänzlich aus dem Leben der Unwissenheit zurückzieht und von ihm trennt: sonst wäre ein Kompromiss zwischen beiden Lebensformen notwendig und mit dem Kompromiss entsteht aber die Gefahr, dass das höhere Dasein verdorben oder unvollkommen wird; da kommen zwei verschiedenartige und miteinander unverträgliche Daseins-Prinzipien miteinander in Berührung, und obwohl das höhere Prinzip das niedere Dasein beeinflusst, wirkt das niedere auch auf das höhere ein, da eine solche wechselseitige Einwirkung das Gesetz aller gegenseitiger Berührung und jeden Austausches ist. Man kann sogar die Frage erheben, ob nicht Konflikt und Zusammenstoß ihre Beziehung in erster Linie regelt, da sich im Leben der Unwissenheit stets der schreckliche Einfluss der Kräfte jener Finsternis, die das Böse und die Gewalttätigkeit unterstützen, vorfindet und aktiv ist, und dessen Interesse darauf gerichtet ist, alles höhere Licht, das in das Dasein der Menschen eindringt, zu verdunkeln und zu zerstören. Es war in der Vergangenheit häufig so, dass sich gegen alles, was neu ist oder sich über die geltende Ordnung der menschlichen Unwissenheit zu erheben oder aus ihr auszubrechen sucht, Opposition und Intoleranz, sogar Verfolgung erhebt oder ist das Neue siegreich, drängen sich die niederen Kräfte in es ein. Wenn die Welt das Neue akzeptiert, ist es gefährlicher, als wenn sie sich ihm widersetzt, da am Ende dann das neue Prinzip des Lebens ausgelöscht, entwertet oder verdorben wird; diese Opposition kann noch viel gewalttätiger werden und ein enttäuschender Ausgang ist dann noch wahrscheinlicher, wenn ein neues Licht oder eine neue Macht die Erde grundsätzlich als ihr angestammtes Erbe beanspruchen. Wir dürfen aber davon ausgehen, dass das neue und vollkommenere Licht auch eine neue und vollkommenere Macht mit sich bringt. Es mag gar nicht notwendig sein, dass es sich völlig absondert. Es kann sich in so vielen Inseln festsetzen und von dort aus seine Einflüsse und Infiltrationen in alles alte Leben hineingießen, um es zu durchstrahlen, wodurch es die Überhand gewinnt und Hilfe und Erleuchtung bringt, und eine neue Aspiration in der Menschheit versteht diese mit der Zeit immer besser und heißt sie willkommen.
Das sind aber offensichtlich Probleme des Übergangs in der Evolution, bevor die volle und siegreiche Umwandlung durch die sich offenbarende Kraft stattgefunden hat und bevor das Leben des gnostischen Menschen ebenso zu einem fest gegründeten Teil der irdischen Welt-Ordnung geworden ist wie das des mentalen Menschen. Gehen wir davon aus, dass das gnostische Bewusstsein im Erden-Bewusstsein auf sichere Fundamente gestellt werden soll, müssen auch die ihm zur Verfügung stehende Macht und sein Wissen viel größer sein als Macht und Wissen des mentalen Menschen. Dann ist das Leben einer Gemeinschaft gnostischer Menschen, angenommen es verläuft getrennt für sich, gegen einen Angriff ebenso gesichert, wie es das organisierte Leben gegen einen Angriff einer niederen Gattung gewesen ist. Genauso aber, wie dieses Wissen und das eigentliche Prinzip der gnostischen Natur eine erleuchtete Einheit im gemeinsamen Leben gnostischer Menschen sicherstellt, reicht es auch dazu aus, eine überlegene Harmonie und aussöhnende Verständigung zwischen den beiden Typen des Lebens sicherzustellen. Der Einfluss des supramentalen Prinzips auf die Erde wirkt sich auf das Leben der Unwissenheit aus und legt ihm innerhalb seiner Grenzen Harmonie auf. Es ist vorstellbar, dass dabei das gnostische Leben noch für sich gesondert bleibt, aber es wird sicherlich all das vom menschlichen Leben außerhalb in seinen Bereich aufnehmen, was der Spiritualität zugewandt ist und zu ihren Höhen vorwärtsgeht; der Rest mag sich vor allem aufgrund des mentalen Prinzips auf seinen alten Fundamenten organisieren, aber da ihm nun vonseiten eines erkennbaren höheren Wissens Hilfe und Einfluss zuströmt, tut es das voraussichtlich in den Grundzügen einer vollkommeneren Harmonisierung, deren das menschliche Kollektiv bis jetzt nicht fähig ist. Auch hier kann indessen das Mental nur Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten voraussagen; das Supramental-Prinzip in der Übernatur wird selbst im Einklang mit der Wahrheit der Dinge über das Gleichgewicht einer neuen Welt-Ordnung entscheiden.
Eine gnostische Übernatur transzendiert alle Werte unserer normalen unwissenden Natur. Unsere Maßstäbe und Werte sind von der Unwissenheit erschaffen und können deshalb nicht das Leben der Übernatur bestimmen. Zugleich ist aber unsere gegenwärtige Natur aus der Übernatur abgeleitet und sie ist keine reine Unwissenheit, sondern ein Halbwissen; darum darf man vernünftigerweise annehmen, dass jedwede spirituelle Wahrheit, die in oder hinter ihren Normen und Werten existiert, in dem höheren Leben wieder erscheinen wird. Nur treten sie hier nicht als Maßstäbe auf, sondern als umgewandelte Elemente, die aus der Unwissenheit emporgehoben und in die wahre Harmonie eines erleuchteteren Daseins versetzt sind. Wie der universal gewordene spirituelle Einzelmensch die begrenzte Personalität des Egos abwirft, sobald er sich über das Mental zum vollkommenen Wissen in der Übernatur erhebt, so müssen die widersprüchlichen Ideale des Mentals von ihm abfallen, aber was hinter ihnen wahr ist, bleibt im Leben der Übernatur erhalten. Das gnostische Bewusstsein ist ein Bewusstsein, in dem alle Widersprüche aufgehoben oder ineinander verschmolzen werden in einem höheren Licht des Betrachtens und Seins und in einer vereinten Erkenntnis des Selbsts und der Welt. Der gnostische Mensch erkennt die Ideale und Normen des Mentals nicht an; seine Beweggründe sind nicht, für sich, für sein Ego, für die Menschheit, für andere Menschen, für die Gemeinschaft oder für den Staat zu leben; denn er ist einer höheren Wahrheit als dieser Halb-Wahrheiten inne, nämlich der Göttlichen Wirklichkeit, für die er nun lebt, für das, was sie in ihm und in allen will, im Geist der Universalität, im Lichte dessen, was die Transzendenz will. Aus demselben Grunde kann es im gnostischen Leben keinen Widerstreit zwischen Ich-Behauptung und Altruismus geben, denn das Selbst des gnostischen Menschen ist eins mit dem Selbst aller – es gibt keinen Konflikt zwischen dem Ideal des Individualismus und dem kollektiven Ideal, denn beide Ideale sind Begriffe einer höheren Wirklichkeit und für den Geist des gnostischen Menschen können sie nur insofern von Wert sein, als beide die Wirklichkeit zum Ausdruck bringen oder ihre Erfüllung dem Willen der Wirklichkeit dient. Zugleich wird aber in seinem Dasein all das erfüllt, was in den mentalen Idealen wahr und in ihnen schattenhaft vorgebildet ist; denn während einerseits sein Bewusstsein so weit über die menschlichen Werte hinausgeht, dass er Gott nicht ersetzen kann durch die Menschheit, die Gemeinschaft, den Staat, die anderen Menschen oder durch sich selbst, ist es doch andererseits Teil seines Handelns im Leben, dass er das Göttliche in sich selbst anerkennt, ein Empfinden hat für das Göttliche in den anderen Menschen, ein Gefühl des Einsseins mit der Menschheit, mit allen anderen Wesen, mit der ganzen Welt, weil das Göttliche in ihnen ist. Das führt ihn zu einer stärkeren und besseren Bejahung der immer stärker erkannten Wirklichkeit in ihnen. Denn alles, was er tun soll, wird von der Wahrheit des Wissens und des Willens in ihm, von einer ganzen und unendlichen Wahrheit entschieden, die nicht durch ein einzelnes mentales Gesetz oder eine Norm festgelegt wird, vielmehr handelt er in Freiheit innerhalb der ganzen Wirklichkeit, mit Achtung vor jeder Wahrheit an ihrem Ort, in klarer Erkenntnis der Kräfte, die am Werk sind, und der Absicht des sich offenbarenden Göttlichen Schöpferwillens bei jedem Schritt der kosmischen Evolution und in jedem Ereignis und Umstand.
Für das vollkommen gewordene spirituelle oder gnostische Bewusstsein muss alles Leben die Offenbarung der verwirklichten Wahrheit des Geistes sein; nur dem, der sich umwandeln, in jener größeren Wahrheit sein spirituelles Selbst finden kann und in ihre Harmonie einschmelzen lässt, kann die Aufnahme in jenes Leben gewährt werden. Was überleben wird, kann das Mental nicht entscheiden, denn die supramentale Gnosis will selbst ihre Wahrheit zu uns herabbringen und diese Wahrheit nimmt alles, was vorher von ihr in unsere Ideale und Verwirklichungen des Mentals, Lebens und Körpers hineingegeben worden ist, zu sich empor. Die Formen, die sie hier angenommen hat, können nicht überleben, denn sie sind wahrscheinlich für das neue Dasein nicht geeignet, ohne gewandelt oder ersetzt zu werden; was aber in ihnen oder auch in ihren Formen wirklich und bleibend ist, wird sich der zum Überleben notwendigen Transformation unterziehen. Dabei wird vieles, was für das menschliche Leben normal ist, verschwinden. Die vielen mentalen Idole, Prinzipien und Systeme, einander widerstreitenden Ideale, die der Mensch in allen Bereichen seines Mentals und Lebens geschaffen hat, können im Licht der Gnosis keine Anerkennung und Verehrung verlangen; Aussicht, als Element einer auf viel umfassenderer Grundlage gegründeten Harmonie Eingang zu finden, kann – falls sie existiert – nur die Wahrheit haben, die verborgen hinter diesen vieldeutigen Bildern steht. Krieg könnte offensichtlich in einem Leben, das vom gnostischen Bewusstseins regiert wird, keine Seins-Grundlage haben mit seinem Geist der Gegensätzlichkeit und Feindschaft, seiner Brutalität, Zerstörung und ignoranten Gewalttätigkeit, dem politischen Kampf mit seinem ständigen Konflikt, seiner häufigen Unterdrückung, den Unehrlichkeiten, schimpflichen Handlungen, egoistischen Interessen, mit Unwissenheit, Unfähigkeit und Chaos. Die Künste und Handwerke bestehen weiter, aber nicht für minderwertiges mentales oder vitales Vergnügen, zur Freizeit-Unterhaltung und Lusterregung, sondern als Ausdrucksformen und Mittel der Wahrheit des Geistes, um der Schönheit und Freude am Sein willen. Leben und Körper sind nicht mehr die tyrannischen Herren, die neun Zehntel unseres Daseins zu ihrer Befriedigung verlangen, sondern Mittel und Mächte, um den Geist auszudrücken. Da Materie und Körper voll anerkannt sind, ist zugleich auch die Beherrschung und rechte Verwendung der physischen Dinge ein Teil des verwirklichten Lebens des Geistes in seiner Manifestation in der Erden-Natur.
Man nimmt fast allgemein an, spirituelles Leben müsse notwendig ein Leben in asketischer Dürftigkeit sein, man müsse alles verwerfen, was nicht für die bloße Erhaltung des Körpers notwendig sei; das ist zwar gültig für ein spirituelles Leben, das seiner Natur und Absicht nach ein Leben der Abkehr vom Leben ist. Und auch abgesehen von diesem Ideal könnte man denken, die Hinwendung zum Geist erfordere immer äußerste Einfachheit, da alles übrige ein Leben des vitalen Verlangens und der Selbst-Befriedigung in körperlicher Lust sei. Von einem umfassenderen Gesichtspunkt her gesehen ist das aber ein mentaler Maßstab, der sich auf das Gesetz der Unwissenheit gründet, deren Motiv das Begehren ist; so kann als gültiges Prinzip der Grundsatz auftreten, man müsse, um die Unwissenheit zu überwinden und das Ego auszulöschen, nicht nur das Begehren selbst vollständig zurückweisen, sondern auch alle Dinge, die das Begehren befriedigen können. Eine solche Norm ist aber wie jeder mentale Maßstab keineswegs absolut und ebensowenig als Gesetz für jenes Bewusstsein bindend, das sich über das Begehren erhoben hat; zum Wesenskern einer solchen Natur gehört völlige Reinheit und Meisterschaft aus dem Selbst, und sie bleibt dieselbe in Armut und in Reichtum: wäre sie doch nicht wirklich oder vollständig, wenn sie durch beides erschüttert oder befleckt werden könnte. Die einzige Regel für das gnostische Leben ist, dass wir durch unser Selbst den Geist, den Willen des Göttlichen Wesens zum Ausdruck bringen; dieser Wille, dieser Selbst-Ausdruck kann sich ebenso durch äußerste Einfachheit wie durch äußerste Vielfalt und Üppigkeit des Lebens oder durch natürliche Ausgewogenheit offenbaren – denn Schönheit und Fülle, die verborgene Süße und das Lächeln in den Dingen, der Sonnenschein und die Freude am Leben sind ebenfalls Mächte und Ausdrucksformen des Geistes. Nach allen Richtungen hin bestimmt der Geist, der im Innern das Gesetz unserer Natur lenkt, auch den Rahmen des Lebens, seine Einzelheiten und seine Umstände. In allem herrscht dasselbe formbare Prinzip; so notwendig die Geltung strenger Normen für eine Ordnung der Dinge durch das Mental ist, so kann dies doch nicht das Gesetz spirituellen Lebens sein. Hier wird sich vielmehr eine große Mannigfaltigkeit und Freiheit des Ausdrucks des Selbsts zeigen, die ihre Basis in der zugrundeliegenden Einheit hat; und doch gibt es dabei überall Harmonie und eine Ordnung aus der Wahrheit.
Ein Leben gnostischer Menschen, das die Evolution zu einem höheren, supramentalen Zustand emporträgt, mag man zutreffend als ein göttliches Leben charakterisieren; denn es ist ein Leben im Göttlichen, des Hervorbrechens eines spirituellen göttlichen Lichtes mit seiner in der materiellen Natur geoffenbarten Macht und Freude. Man könnte es auch als das Leben eines spirituellen und supramentalen Über-Menschentums beschreiben, da es über die mentale menschliche Ebene hinausgeht. Man darf das aber nicht mit vergangenen oder gegenwärtigen Vorstellungen von Übermenschentum verwechseln; denn in der mentalen Vorstellung besteht das Übermenschentum darin, dass ein Mensch über die normale menschliche Stufe hinauskommt, und zwar nicht durch eine höhere Art, sondern nur durch einen höheren Grad derselben Art, nämlich durch ausgeweitete Persönlichkeit, ein vergrößertes und übertriebenes Ego, vermehrte Macht des Mentals, erhöhte Vital-Kraft und verfeinerte oder verdichtete und massive Übertreibung der Kräfte der menschlichen Unwissenheit; sie enthält auch, und das wird allgemein dabei vorausgesetzt, die Idee einer gewalttätigen Beherrschung der Menschheit durch den Übermenschen. Das wäre ein Übermenschentum vom Typus Nietzsches; im schlimmsten Fall ist es die Herrschaft der „blonden Bestie“ oder der dunklen Bestie oder irgendeiner und jeder Bestie, eine Rückkehr zu brutaler Gewalt, Rohheit und Kraft: es wäre keine Evolution, sondern ein Rückfall in die alte verbissen-gewalttätige Barbarei. Oder es könnte bedeuten, dass der Rakshasa oder Asura aus dem eifrigen, aber in der verkehrten Richtung angelegten Bemühen der Menschheit hervorgeht, über sich selbst hinauszukommen und sich zu transzendieren. Ein gewalttätiges und turbulentes übertriebenes vitales Ego, das sich durch eine höchst tyrannische oder anarchische Kraft der Selbst-Durchsetzung befriedigt, ist der Typus eines übermenschlichen Rakshasa: aber der Riese, das Ungeheuer, das die Menschen und die Welt verschlingt, dieser Rakshasa gehört, auch wenn er noch überlebt, zum Geist der Vergangenheit; würde dieser Typus wieder in größerer Zahl hervortreten, so wäre auch das eine rückwärts gerichtete Entwicklung. Ein Zur-Schau-Stellen einer überwältigenden Kraft, eine selbstbeherrscht, verhalten, unter Umständen gar von asketisch gebändigter Mentalität und Lebens-Macht, stark, ruhig oder kalt oder in seiner gesammelten Vehemenz furchtbar, dabei subtil, herrschsüchtig und zugleich eine Sublimierung des mentalen und vitalen Egos, ist der Typus des Asura. Die Erde hat aber in ihrer Vergangenheit genug von dieser Art, und wenn sie sich wiederholt, verlängert sie nur die alten Entwicklungslinien; für ihre Zukunft kann die Erde vom Titan, vom Asura keinen wahren Nutzen haben und nicht die Möglichkeit gewinnen, über sich selbst hinauszukommen: selbst wenn diese Typen in sich eine große oder übernormale Macht besäßen, würde das die Erde nur auf weiteren Kreisen ihres alten Umlaufs forttragen. Was jetzt hervortreten muss, ist etwas viel Schwierigeres und zugleich etwas viel Einfacheres; es ist ein Wesen, das sein Selbst verwirklicht, ein Aufbau auf dem spirituellen Selbst, eine Intensität und ein Drängen der Seele, eine Freisetzung und Souveränität ihres Lichts, ihrer Macht und ihrer Schönheit, – kein egoistisches Übermenschentum, das sich durch mentale und vitale Herrschaft über die Menschheit durchsetzt, sondern die Souveränität des Geistes gegenüber seinen eigenen Instrumenten. Dieses Übermenschentum besitzt sein Selbst und sein Leben in der Macht des Geistes, in einem neuen Bewusstsein, in dem die Menschheit den Weg findet, über sich hinauszukommen und sich selbst zu erfüllen durch die Enthüllung des Göttlichen, das in ihr auf seine Geburt drängt. Das ist die einzige wahre Art Übermenschentum, und das ist die einzig wahre Möglichkeit für einen Schritt nach vorn in der evolutionären Natur.
Dieser neue Zustand ist in der Tat eine Umkehrung des gegenwärtigen Gesetzes des menschlichen Bewusstseins und Lebens, denn es kehrt das Prinzip des Lebens in der Unwissenheit um. Von der Seele kann man sagen, sie ist in die Unbewusstheit herabgekommen, um die Unwissenheit, ihre Überraschung und ihr Abenteuer zu genießen, sie hat die Verkleidung der Materie angenommen, um das Abenteuer und die Freude am Erschaffen und Entdecken zu genießen, ein Abenteuer des Geistes, ein Abenteuer von Mental und Leben und die gefährlichen Überraschungen ihres Wirkens in der Materie, denn sie sucht das Neue und Unbekannte zu entdecken und zu erobern; aus all diesem besteht das Abenteuer des Lebens, und es scheint nun, dies alles könnte aufhören, wenn die Unwissenheit aufhört. Das Leben des Menschen besteht aus Licht und Finsternis, aus Gewinnen und Verlusten, Schwierigkeiten und Gefahren, den Freuden und Leiden der Unwissenheit, einem Spiel von Farben, das sich auf dem Boden einer allgemeinen Neutralität der Materie vollzieht, die das Nicht-Bewusste und die Empfindungslosigkeit des Unbewussten zur Grundlage hat. Für das normale Lebens-Wesen mag ein Dasein ohne die Reaktionen von Erfolg und Enttäuschung, ohne vitale Freude und Traurigkeit, Gefahr und Leidenschaft, Lust und Schmerz, ohne die Wechselfälle und Ungewissheiten des Schicksals, ohne den Kampf, die Schlacht und die Anstrengung, ohne Freude an der Neuerung und Überraschung und ohne schöpferisches Tun, das sich ins Unbekannte projiziert, als öde, ohne Abwechslungen und darum auch ohne vitale Würze erscheinen. Darum hält der normale Mensch jedes Leben, das über diese Dinge hinausgeht, für etwas Gestaltloses, Ödes oder unveränderlich Eintöniges; die Vorstellung des menschlichen Mentals vom Himmel ist eine unablässige Wiederholung ewiger Monotonie. Das ist aber eine falsche Auffassung; denn wenn wir ins gnostische Bewusstsein eintreten, gehen wir ins Unendliche ein. Das ist eine Schöpfung des Selbsts, die das Unendliche auf unendliche Weise in die Formen des Seienden einbringt, und der Reiz des Unendlichen ist viel größer und vielseitiger, auch in unvergänglicher Weise freudvoller, als der Reiz des Endlichen. Die Evolution im Wissen ist eine schönere und herrlichere Manifestation mit viel weiteren Ausblicken, die sich immer neu entfalten und in jeder Weise stärker sind als jede Entwicklung in der Unwissenheit. Die Wonne des Geistes ist immer neu, die von ihm gewählten Formen der Schönheit sind unzählig, seine Göttlichkeit ist immer jung, der Geschmack der Seligkeit, rasa, des Unendlichen ist ewig und unerschöpflich. Die gnostische Manifestation des Lebens ist erfüllter und trägt reichere Frucht und ihr Reiz ist intensiver als der schöpferische Reiz der Unwissenheit; sie ist ein größeres, froheres ständiges Wunder.
Gibt es eine Evolution in der materiellen Natur und ist sie eine Evolution des Wesens, deren zwei Schlüssel-Begriffe und Mächte Bewusstsein und Leben heißen, dann muss diese Fülle des Wesens, diese Fülle des Bewusstseins, diese Fülle des Lebens das Ziel der Entwicklung sein, dem wir zustreben und das sich auf einer früheren oder späteren Stufe unserer Bestimmung manifestieren wird. Das Selbst, der Geist, die aus der ersten Unbewusstheit von Leben und Materie sich enthüllende Wirklichkeit wird ihre vollständige Wahrheit von Wesen und Bewusstsein in diesem Leben hier und in dieser Materie entfalten. Die Wahrheit wird zu sich selbst zurückkehren – sollte es ihre Absicht sein, dass das Individuum ins Absolute heimkehrt, kann sie auch diese Rückkehr vollziehen – nicht durch eine Enttäuschung am Leben, sondern durch ihre spirituelle Vollkommenheit im Leben. Unsere Entwicklung in der Unwissenheit mit ihrer bunten Mischung von Freude und Schmerz bei unserer Entdeckung des Selbsts und der Welt, mit ihren halben Erfüllungen, ihrem ständigen Finden und Verlieren, ist nur ein erster Zustand. Sie muss unausweichlich zu einer Entwicklung im Wissen führen, einer Selbst-Findung und Selbst-Entfaltung des Geistes, eine Selbst-Enthüllung der Göttlichkeit in den Dingen in jener wahren Macht seiner selbst in einer Natur, die für uns jetzt noch die Übernatur ist.
